Der Komponist hat nach „Heiße Ecke“ auch die Musik für „Das Wunder von Bern“ geschrieben. Schon vor der Uraufführung im Stage-Theater ist der 42-Jährige einer der erfolgreichsten seiner Zunft..

Hamburg. Das sogenannte Entertainment-Haus steht schon seit einem Jahr an der Simon-von Utrecht-Straße. Martin Lingnau kommt es vor, als wären es erst vier Monate. In dem orange-roten Gebäude, parallel zur Reeperbahn an der Grenze von St. Pauli zu Altona, liegt seit Oktober 2013 hoch oben sein Kreativzentrum.

Kein Büro, ein Composers Room. Zwei Bildschirme, ein Keyboard mit Tastatur zum Schreiben, eines zum Mixen und unterm Schreibtisch ein großes herausziehbares E-Piano – hier lässt es sich richtig gut arbeiten. Lingnau ist Komponist, Musical-Komponist. Für die Besucher hat er ein Plakat von „Die Königs vom Kiez“ aufgehängt, der turbulenten Musiktheaterkomödie mit Herz und Schnauze. Die hat er im Vorjahr im Schmidt mit herausgebracht.

Für die erfolgreichen Privattheater Schmidt und Schmidts Tivoli arbeitet Martin Lingnau schon seit 20 Jahren, inzwischen als musikalischer Leiter. „Heiße Ecke“, „Villa Sonnenschein“, „Die Königs ...“ und erst kürzlich das wunderbare frisch-freche Familienmusical „Der kleine Störtebeker“ hat er im Verbund mit den Schmidt-Autoren kreiert. Die beiden Häuser sind für den freischaffenden Lingnau seine „Home-Base“. Und die Basis für vieles mehr.

Lingnau wirkt meist im Hintergrund

Wie auf Bestellung erscheint auf dem linken Bildschirm das Motiv zu „Das Wunder von Bern“. Das vorm Hintergrund des Fußball-WM-Finales 1954 spielende Musical, das am 23. November im neuen Stage-Theater an der Elbe Welturaufführung erlebt, hat Lingnau ebenfalls komponiert. „Diese Möglichkeit, solch ein großes Theater zu eröffnen mit der eigenen Musik, das passiert einem nicht so oft im Leben“, sagt Lingnau.

Bei der ersten Probe mit Band – ein 15-köpfiges Orchester – sei ihm bewusst geworden, „dass es die erste Musik ist, die dieses Theater erlebt.“ Lingnau schmunzelt. Die Musiker hätten so schön vor sich hingeprobt, als er durchs Foyer lief. „Das sind ganz seltene Glücksmomente, die man sich nicht kaufen kann.“

Obwohl Lingnau meistens im Hintergrund wirkt, war er schon vor seinem bisher größten Projekt alles andere als ein No-Name im Musical-Metier: „Der Schuh des Manitu“ in Berlin, „Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär“ in Köln, „Das Orangenmädchen“ in Wien. „De Droomvlucht“ in den Niederlanden, all diese Stücke stammen aus seiner Feder. Als Komponist muss man sich weiterentwickeln. „Ich lerne ja mit dem Zusammenspiel von anderen Leuten auch wieder für die Hamburger Basis.“

Ein Musical ist eine große dramaturgische Aufgabe

Prominente Lehrmeister hatte der gebürtige Wilhelmshavener einige – vor und nach dem Besuch des Popkurses im Jahr 1992, des Kontaktstudiengangs für Popularmusik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Bei Koryphäen wie Klaus Ignatzek und Johannes Schmoelling hatte er sein Handwerk erlernt. In Meisterklassen des Librettisten Michael Kunze („Elisabeth, „Tanz der Vampire“ ) und des Oscar-Gewinners Alan Menken („Arielle, die Meerjungfrau“, „Die Schöne und das Biest“) in den Niederlanden bildete er sich weiter. Zwischen U- und E-Musik unterscheidet Lingnau nicht.

Ein Musical stellt den Melodienschöpfer vor die große dramaturgische Aufgabe, ein populäres Stück zu schreiben. Der Komponist: „Das Vorrangige bei einem Musical ist, dass die Geschichte möglichst spannend, emotional und mitreißend erzählt wird.“ Und zwar mithilfe von Songs.

Lingnau war sich beim „Wunder von Bern“ vom Anpfiff an der Aufgabe bewusst: „Es wird nicht leicht diese ehrliche Emotionalität, die der Film hat, als Musiktheater zu treffen“, sagte er sich. „Diesen Ruhrgebietston, das Direkte und gleichzeitig die äußere Form eines großen Musicals – das war eine besondere Herausforderung.“ Und die Hauptarbeit? „Die war, erst mal rauszufinden: Wo sitzen die guten Lieder? Wo hat ein Charakter wirklich etwas zu erzählen, und wo passiert in der Geschichte wirklich viel? Das wird als Song umgearbeitet“, erläutert er. An der alten Regel, ein Musical wird nicht geschrieben, es wird umgeschrieben, ist mithin viel dran.

Natürlich hat Lingnau seine Lieblinge

Mehr als vier Millionen Besucher haben Lingnaus Musicals im deutschsprachigen Raum schon live erlebt. Was für den Erfolgskomponisten Erfolg ist? „Wenn man ein Kunstwerk geschaffen hat, das für sich steht. Es können nicht immer Millionen Menschen sein, manchmal sind es auch nur Tausend, aber es ist etwas ganz Besonderes.“

Natürlich hat Lingnau seine Lieblinge – alle gespeichert in der Sound-Bibliothek. Er geht an den Computer. Pause. Dann ertönt „Nur noch kurze Zeit“ aus „Swinging St. Pauli“, geschrieben 2001 fürs Tivoli. „Dies ist eine frühe Vorlage, wie große Ensemble-Nummern überraschend und voller Varianten komponiert werden sollten“, sagt er. Ein Balladenfreund sei er aber auch.

Mal die Szene kürzen, auch bei den Songs – alles Teamarbeit. In diesem Fall mit Texter Frank Ramond und Regisseur Gil Mehmert. „Beim Musical ist es fast immer so, dass der Song, von dem du dachtest, das wird die Single, dass der rausfliegt.“ Da müsse man uneitel sein, nicht selbstverliebt, nicht mimosenhaft. Lingnau ist sehr selbstkritisch. Seinen Anteil umschreibt der Komponist blumig: „Wie ein Gärtner musst du gucken, dass der Rosenstrauch gut ist.“

An diesem Mittag hat er noch einiges zu pflegen in der hanseatischen Musical-Landschaft. Er will noch zu den den Proben ins Theater an der Elbe. „Ich kann, muss und will“, sagt Lingnau. Detailarbeit. Man wird von ihm hören. Auch nach dem „Wunder von Bern“. Lingnau ist ja erst 42 – für einen Profi-Fußballer längst das Rentenalter, für einen Top-Komponisten noch gar nichts.

„Das Wunder von Bern“ Uraufführung So 23.11., Voraufführungen ab Do 20.11., Stage-Theater an der Elbe, Karten zu 47,90 bis 123,90 € in den HA-Ticket-Shops u. unter T. 30 30 98 98; www.musicals.de