Am Schauspielhaus hatte Karin Henkels Inszenierung von Gerhart Hauptmann „Die Ratten“ ihre Hamburg-Premiere. In der Hauptrolle als eindrucksvolle Prinzessin der Unterwelt begeisterte Lina Beckmann.

Hamburg. Schon die Bühne von Jens Kilian ist ein Statement. Ein gigantischer schwarzer Kasten mit scheppernd schließenden Klappen wie ein verborgenes Urnenfeld oder auch ein surrealer Trip in die Kammern des Unbewussten. Das Holzkreuz in der mobilen, engen Wohnkammer als Mahnung an ein übergeordnetes moralisches System ist einzige Dekoration, weniger Ausdruck von echter Überzeugung.

Wie derzeit häufig am Schauspielhaus erobert sich eine Darstellerin das Zentrum, den Platz im Auge des Sturms. Lina Beckmann trägt in der Rolle der Frau John die Inszenierung von Gerhart Hauptmanns 1911 uraufgeführter „Berliner Tragikomödie“ „Die Ratten“. Das Gesicht ständig in Bewegung, grimassierend, die Augen rollend, bald in Schweiß gebadet, ist sie eine eindrucksvolle Prinzessin der Unterwelt, der verborgenen Armut, der bedrückenden Enge. Eine Naturgewalt.

Während am Thalia Theater Jette Steckels analytische Version läuft, gibt es also nun „Die Ratten“ in der Regie von Karin Henkel am Schauspielhaus, eine Übernahme aus Karin Beiers Kölner Erfolgsjahren, von Kritik und Publikum geschätzt und 2013 mit einer Einladung zur Bestenschau, dem Berliner Theatertreffen, geadelt. Ob es nun eine so glückliche Planung zu nennen ist, wenn ein Stück an zwei Hamburger Theatern läuft, sei dahingestellt.

Die Handschrift Henkels, jüngst an gleicher Stelle erfolgreich mit Ibsens „John Gabriel Borkman“, ist nicht unbedingt wiedererkennbar, sie lässt sich höchstens auf einen Nenner bringen, jenen der Ironie. Souverän verschränkt Karin Henkel die Ebenen des Stückes, oben die Dachbodenebene des Theaterdirektors Harro Hassenreuter und seiner Familie, der inmitten seines Theaterfundus die Rettung des Lebens durch die Kunst probt, darunter in den lichtlosen Kammern das den Verhältnissen ausgelieferte Prekariat.

Frau John begeht eine Menge schlimmer Fehler

Und mittendrin Lina Beckmanns Frau John. Die Unterschichtenposen von gekonnter Verwahrlosung beherrscht sie inklusive stark gefärbtem Dialekt meisterhaft, ringt der Figur der nach dem Tod eines Sohnes nunmehr ungewollt kinderlosen kämpferische Facetten von fast shakespearescher Dimension ab. Natürlich begeht Frau John eine Menge schlimmer Fehler, Beckmann verleiht ihrer Ausweglosigkeit und ihrem unbedingten Willen zum Glück jedoch eine Würde, die sie noch in ihrer Verworfenheit und Verirrtheit menschlich erscheinen lässt.

Henkel folgt Hauptmann, der im ersten Teil Betrachtungen über die Kunstform des Theaters anstellt. Gleich neben der Bühne rüschen sich die von Klaus Bruns ausgestatteten Figuren grotesk zurecht. Mit Ballett-Tutus und Pickelhauben im Abgesang auf den Wilhelminismus, mit Puppenschminke und Rokoko-Kleidchen. Yorck Dippe gibt hier Harro Hassenreuther erst als Theaterclown und Ehemann auf Abwegen, später als Regie-Tyrannen. Den Schauspielanwärter und Theologensohn Eric Spitta macht er ebenso nieder wie die eigene Tochter. Jan-Peter Kampwirth verleiht dem von Hauptmann eher als dümmliches Weichei angelegten Spitta eine durchaus idealistische, gesellschaftskritische Facette und schiebt wie so oft eine Nebenrolle mit hohem Einsatz an kauzigem Spott körperlich virtuos ins Feld der Aufmerksamkeit. Er proklamiert „wahre Gefühle und echten Schmerz“ und „keine Kunstkacke mehr“, was Hassenreuter im Namen der Kunst wegwischt.

Lena Schwarz überzeugt als verwundete polnische Einwanderin

Die Possen werden hier nicht übertrieben, der Ton bleibt ernst, schließlich gilt es, das Drama der Frau John zu erzählen, die ihr Kind verlor, sich das fremde einverleibt, das eine verzweifelte Polin von ihrem kriminellen Bruder Bruno erwartet, der ebenfalls von Jan-Peter Kampwirth gespielt wird. Erst scheint die Lüge aufzugehen und die Nachbarn gratulieren Frau John zum neuen Nachwuchs, doch als die wahre Mutter ihr Kind nur anschauen will, wandelt sich Frau John zur in die Ecke getriebenen Löwin. Sie will nicht, sie muss. Ihr Maurergatte Paul, den Bernd Grawert mit gekonntem Stumpfsinn spielt, gibt bei all dem eine traurige, lange ahnungslose Figur ab, die sich am Schluss in hilfloser Gewalt entlädt. Die ehemalige Forsythe-Tänzerin Kate Strong spiegelt die Tragödie als Verlorene im Heroin-Chic. Lena Schwarz überzeugt im Flatterdress als wahnhaft verwundete polnische Einwanderin, deren Leben bald nichts mehr zählt. So häufig sie ihren komplizierten Namen auch buchstabieren wird, sie ist nur eine Namenlose, im Leben zu kurz Gekommene, unter vielen.

Zwischen den Wirklichkeitsbehauptungen des Theaters, wie sie den egomanischen Theaterdirektor auf dem Dachboden umtreiben, und der erbarmungswürdigen Drangsal der Verlorenen in den Mietshausetagen darunter verschärft Henkel den Kontrast in klar gezeichneten Wortduellen. Die mitunter auftretenden schwarze Löcher überspielen die Darsteller mit zartem musikalischem Einsatz. An Frische hat diese Inszenierung beim Transfer nichts eingebüßt. Ihr Thema in Zeiten erneut gestiegener Kinderarmut und weitergereichten Hartz-IV-Biografien erst recht nicht. Man wünscht sich, dass mehr von dieser relevanten Kunst in Zukunft auch hier am Schauspielhaus entsteht.

„Die Ratten“ nächste Vorstellungen 23.10., 29.10., 6.11., 16.11., Karten unter T. 24 87 13;

www.schauspielhaus.de