Die Hamburger Autorin Nino Haratischwili stellte ihren neuen Roman auf der Frankfurter Buchmesse vor. Sie habe darin erkunden wollen, „warum die postsowjetischen Staaten so sind, wie sie sind“.

Frankfurt Auf der Buchmesse sind sie alle in die Hallen gepflanzt, einer neben den anderen. Die Rede ist von den Verlagsständen, diesen temporären Ausstellungsflächen der Buchhäuser, den Orten für die Frankfurter Leistungsschau. Man muss sagen, dass die ganz schön die Backen aufplustert, denn die Zahl der Aussteller ist groß. Die Buchbranche kommt einem ganz schön fett vor, wenn man durch die riesigen Funktionsräume geht, in denen man nichts als Bücher auf Brettern sieht und die unzähligen Menschen, die sich für sie interessieren.

Nino Haratischwili jedenfalls würde man nicht finden in diesem Bücherwahnsinn, hätte man sich nicht der lang erprobten menschlichen Verabredungspraxis befleißigt. Deshalb wartet Haratischwili jetzt also am Stand der Frankfurter Verlagsanstalt, ihres Verlags, Kennnummer für die Dauer der Buchmesse: 3.1/E111. Nummern sind sehr wichtig hier, sie helfen bei der Ortung im Labyrinth der Literatur, auch jener jungen Autorin, die in dieser Saison durchaus für Aufregung sorgt und jetzt erst mal ganz cool in ihren Buchmessen-Tag mit Interviews und Bühnenauftritten startet.

Es ist das Schaulaufen der Frau, die den dicksten Roman der Saison geschrieben hat, einen literarischen Brocken von 1300 Seiten, mehr als ein Kilo schwer und auch sonst in vielerlei Hinsicht gewichtig. Gäbe es, nur ganz theoretisch, ein Buch, das rein von den Maßen her in der Masse wiedererkennbar wäre – es wäre dieses.

Vier Jahre hat die 1983 in Tiflis geborene und seit einem Jahrzehnt in Hamburg lebende Autorin an dem Riesenwerk mit Namen „Das achte Leben (Für Brilka)“ gearbeitet. Eine Arbeitsstrecke, die in ihrer Länge so nicht geplant war. „Es wurde halt immer mehr“, sagt Haratischwili und zuckt mit den Schultern. Tolstoi-Vergleiche würde sie nie anstellen, diese junge Frau, die sich mit dem Roman die Geschichte ihrer Heimat zusammensetzen wollte, „wie Puzzleteile“. Sie habe wissen wollen, sagt sie, „warum die postsowjetischen Staaten so sind, wie sie sind“.

Ihre Familiensaga ist ein Jahrhundertroman, und zwar im Sinne des Wortes. Er erzählt über fünf Generationen hinweg von einer georgischen Familie, die zunächst die Heraufkunft des Kommunismus erlebt und dann seinen Niedergang. Der außerdem von den Brüchen in der Geschichte des Ostens erzählt, von ihren Grausamkeiten, von der Zeitspanne zwischen der zaristischen Epoche und dem Nachwende-Berlin. Das alles am Beispiel der von vielen Katastrophen heimgesuchten Familie Jaschi, genauer gesagt: am Beispiel der Frauen in dieser Familie. Denn „Das achte Leben“ nimmt meist die weibliche Perspektive ein, den Blickwinkel von Stasia, Christine, Kitty oder Niza, wie Haratischwilis Heldinnen heißen.

Es ist ein gewaltiges, ein mutiges Epos, in dem Haratischwili mit mal großen, mal kleinen Schritten durch die Historie Osteuropas schreitet und der Familiengeschichte, die sich in jener spiegelt. Jetzt gerade, auf Frankfurter Boden, geht’s auch ganz gut voran; wenn man sich nicht von all den anderen, die auch hier sind wegen des Literaturgedöns, ablenken oder aufhalten lässt. Nino Haratischwili geht also durch die Messegänge, sie sagt: „Wahrscheinlich konnte ich so über Georgien nur auf Deutsch schreiben – es ist die Distanz, die dabei hilft.“

Sie spricht übrigens ohne jeden Akzent Deutsch und das, obwohl sie von ihren ersten 20 Jahren nur zwei in Deutschland verbrachte. Mitte der 90er-Jahre kam sie mit ihrer Mutter nach Deutschland, ging aber für das Abitur nach Georgien zurück. Danach studierte sie Theaterregie in Hamburg. Ihr kühnes, vieldeutiges Debüt „Juja“, das von lebensmüden Leserinnen handelt, von zum Selbstmord anstiftender Literatur und unverbesserlichen Frauenhassern, landete 2010 sofort auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

Damals war Haratischwili eine Novizin, der man ihre Aufgeregtheit bei Lesungen durchaus noch anmerken konnte: Als Dramatikerin und Theaterregisseurin hatte sie vorher nie im Rampenlicht gestanden, sondern als Vorlagengeberin für das Bühnengeschehen fungiert. Die Aufregung bei Lesungen hat sich mittlerweile gelegt, beim dritten Buch gehört man auf gewisse Weise zum Establishment des Literaturbetriebs. Haratischwili ist eine selbstbewusste Frau, man würde auch nichts anderes erwarten bei jemandem, der es geschafft hat, nicht nur in einer fremden Sprache, sondern auch einer fremden Welt anzukommen. „Deutsch ist inzwischen meine Alltagssprache“, sagt Haratischwili, die mittlerweile auch in Georgien gelesen wird, „Juja“ ist gerade in der georgischen Übersetzung erschienen.

Ob „Das achte Leben“ irgendwann mal in ihrer Muttersprache erscheint, der Sprache, in der Haratischwili nicht schreiben könnte, wie sie sagt? Es wäre schön, es wäre vielleicht sogar wichtig. Denn wo Mitteleuropäer durch die Lektüre erstmals etwas erfahren über die verschiedenen Haltungen, die man gegenüber der unterdrückerischen Politik Stalins und seiner Nachfolger entwickeln konnte, da schauen osteuropäische Leser beim Lesen in einen Spiegel.

Sie glaubt, dass ihr Roman in Georgien kontrovers diskutiert würde. Und sie fragt sich auch ein bisschen, warum es in dem Land ihrer Vorfahren noch kein vergleichbares Panorama des 20.Jahrhunderts gibt, wie sie es nun vorgelegt hat. Sie wolle nicht besserwisserisch sein, sagt sie, „aber ich finde die Themenwahl der georgischen Gegenwartsliteratur manchmal etwas seltsam“.

In ihrem zweiten Roman „Mein sanfter Zwilling“ ging es am Rande um den Kaukasuskonflikt zwischen Georgien und Russland und auch um eine destruktive Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen – alles Themen, die nun in „Das achte Leben“ wiederkehren, freilich in einem weitaus umfangreicheren Maße. Haratischwili wird auf ihrer Lesereise oft nach dem Ukraine-Konflikt gefragt, „dabei ist Georgien nicht die Ukraine“. Aber es gebe Parallelen bei den Konflikten mit dem großen Hegemon Russland und, sagt sie, „eine berechtigte Angst vor Putin“.

Am Wochenende hat sich die Mutter der Meistererzählerin Nino Haratischwili auf der Buchmesse angesagt. Die Mutter einer Frau, die längst in Hamburg heimisch geworden ist. Die Mutter lebt seit vielen Jahren in Nordrhein-Westfalen und neigt, sagt Haratischwili, nicht dazu, ihre Tochter übertrieben zu loben, „aber meinen neuen Roman findet sie ganz gut“.