Es geht um Insel-Lagen: Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2014 stehen sechs Bücher. Die Preisvergabe ist am Montagabend in Frankfurt am Main. Hier stellen wir die nominierten Romane vor.

Hamburg. Als Marketinginstrument ist der Deutsche Buchpreis etabliert. Erstmals wurde er 2005 vergeben. Seitdem hat er Verlagen und Autoren zu einigen Verkaufserfolgen verholfen. Der Preis wird traditionell am Montagabend vor der Buchmesse vergeben und ist mit 37.500 Euro dotiert, von denen der Sieger 25.000 Euro bekommt.

Wenn heute Abend gegen 18.55 Uhr einem von sechs Finalisten der Preis zuerkannt wird, dann kommt auch wieder ein Aufmerksamkeit generierendes Procedere zu seinem Ende. Seit die Fachbegriffe des Wettbewerbwesens („Longlist“, „Shortlist“) über den Literaturbetrieb gekommen sind, sind zum einen die Beschlussfindungen von Jurys transparenter geworden. Zum anderen werden ach so scheue Dichter ins Rampenlicht gezerrt. Das ist ihnen ja nicht immer so recht. Den Umstand der erzwungenen Öffentlichkeitsarbeit thematisiert übrigens Marlene Streeruwitz in ihrem Roman „Die Nachfahren“. Die Literaturbetriebssatire schaffte es immerhin auf die Longlist. Auf die Shortlist schafften es andere – wir stellen die Finalisten im Einzelnen vor.

Thomas Hettche, „Die Pfaueninsel“ (Kiepenheuer & Witsch, 19,99 Euro): Ein eigenwilliger historischer Roman, für den Hettche, Jahrgang 1964, ausführlich recherchierte und der den Leser in die versponnen-sinnliche Welt eines Havel-Eilands führt. Auf der Pfaueninsel lebte vor knapp zwei Jahrhunderten ein Zwergfräulein, das diesem Rückzugsort der Preußenkönige genauso sein Gepräge gab wie die Kängurus, der Mohr und die Südseeinsulaner, die dort angesiedelt wurden. Das Zwergfräulein Marie ist historisch verbürgt; Hettche lässt das kleine Wesen dem König zu Diensten sein und in eine sexuelle Menage à trois geraten. Hettches Sprache ist possierlich, und er ist unerschrocken in Bezug auf sein szenisches Tableau. So werden wir unter anderem Zeugen eines Blowjobs unter Kleinwüchsigen: wahrscheinlich einmalig in der deutschsprachigen Literaturgeschichte.

Lutz Seiler, „Kruso“ (Suhrkamp, 22,95 Euro): Das Roman-Debüt des bislang vornehmlich als Lyriker in Erscheinung getretenen Lutz Seiler gilt als großer Favorit auf die Auszeichnung. Sein Wenderoman spielt auf Hiddensee, womit eine klitzekleine Tendenz der Gegenwartsliteratur ausgemacht scheint: Es geht um Insellagen. Bei Seilers sprachlich hochartistischer Aussteigergeschichte sind es DDR-Bürger, die in der Ostsee ihre Freiheit suchen von der Erdrückung durch den real existierenden Sozialismus. Wir begleiten Ed Bendler, ein zartes Literaturwissenschaftsbürschchen. Auf Hiddensee trifft er den charismatischen Kruso, der in einer Art besserer DDR-Exklave die Utopie von Freiheit und Gemeinschaft propagiert. Am Ende rennen auch ihm die Gefolgsleute weg: Die Grenzen machen auf. Vergessen bleiben die, die in der drei Jahrzehnte währenden Zeit des Eingesperrtseins bei Fluchtversuchen in der Ostsee ertranken.

Angelika Klüssendorf, „April“ (Kiepenheuer & Witsch, 18,99 Euro): Der zweite Roman, der vor dem Hintergrund der DDR-Geschichte spielt. Das passt gut, wenn sich der Mauerfall zum 25. Male jährt. Die 1958 in Ahrensburg geborene und in der DDR aufgewachsene Klüssendorf ist eine ganz und gar großartige Erzählerin. Sie setzt mit „April“ den 2011 ebenfalls auf der Shortlist des Buchpreises stehenden Roman „Das Mädchen“ fort. Erzählte sie dort von der lieblosen Kindheit und Jugend ihrer Heldin in den 60er-Jahren, sind es nun die Jahre des jungen Erwachsenseins. Klüssendorfs Heldin hat keinerlei Selbstsicherheit, sie ist autoaggressiv und emotional gestört. Eine Borderlinerin, die dem Leser trotzdem ans Herz wächst. Von ihrem Schicksal, das April im Verlaufe der Geschichte nach Westberlin führt, berichtet Klüssendorf in einer makellosen Prosa, die gänzlich entfettet ist, bar jeden Sprachschmucks.

Gertrud Leutenegger, „Panischer Frühling“ (Suhrkamp, 19,95 Euro): Die Schweizer Hoffnung auf der Shortlist. Leutenegger, 1948 geboren in Schwyz, versteht sich in ihrem London-Roman sehr auf das handlungstechnisch arme, aber betrachtungsmäßig reiche Erzählen. Ihre Flaneurin entdeckt in „Panischer Frühling“ nicht nur den Reiz des Metropolen-Erkundens abseits des Baedeker, sondern auch den Trost des mündlichen Austauschs und der vertrauten Begegnung inmitten der Anonymität. Indem sie die Lebensgeschichte eines Zeitungsverkäufers erkundet, den sie immer wieder trifft, gelingt ihr auch die eigene Erinnerung an die Familienvergangenheit in den Bergen. Leutenegger übersetzt Eindrücke in Sprache und feiert gleichzeitig das Erzählen als Modus des Zwischenmenschlichen.

Thomas Melle, „3000 Euro“ (Rowohlt, 19,95 Euro): Der heutigste Titel unter den Finalisten – und der schwierigste. Hatte Melle, Jahrgang 1975, bereits in seinem fulminanten Debüt „Sickster“ von der Großstadt-Härte erzählt, überreizt er sein Defilee der Berlin-Freaks in „3000 Euro“ dann doch etwas. Die Liebesgeschichte zwischen dem in vielfacher Hinsicht gescheiterten Ex-Studenten Anton und der Supermarktkassiererin Denise, die sich unglücklicherweise auf einen Pornodreh einlässt, leuchtet das Milieu des Prekären zwar eindringlich aus, gerät aber manchmal eben auch zum Sozialkitsch. Das Elendsdesign in „3000 Euro“ glänzt zu farbenfroh, und die reine Gegenwärtigkeit seiner Geschichte ist entweder verführerisch oder das genaue Gegenteil: Der Voyeur kann den Blick von den Malaisen der Unterschicht nicht wenden, der Moralist aber sehr wohl. Er hält das Elend sonst nicht aus. Als kurzweilig erzählter Stoff funktioniert „3000 Euro“ sehr gut.

Heinrich Steinfest, „Der Allesforscher“ (Piper, 19,99 Euro): Der überaus sympathische und unterhaltsame Überraschungsfinalist. Der Wahlschwabe Steinfest, von Hause aus Österreicher, ist eigentlich Krimi-Autor. Dass er etwas vom Spannungsaufbau eines literarischen Stoffs versteht, beweist Steinfest mit „Der Allesforscher“. Im Mittelpunkt der verqueren, ja geradezu bekloppten Handlung steht ein Mann namens Sixten Braun, der erst Businessmann ist, dann Bademeister und außerdem nicht nur einen Flugzeugabsturz, sondern auch einen explodierenden Wal überlebt. Tatsache! In Steinfests staunenswertem Stück lösen sich skurrile Szenen und putzige Dialoge ab. Nicht nur wegen der ausführlich geschilderten Träume des Protagonisten folgt der Plot mit seinen Motivverschiebungen und Wirklichkeitsverdichtungen der Logik der Traumwelt. Was daraus am Ende wird: gute Literatur. Gerade und obwohl weil „Der Allesforscher“ nicht hochliterarisch ist.