In einer neuen Serie stellt das Hamburger Abendblatt die internationale, kulturelle Vielfalt der Stadt vor. Wulf Köpke, der Direktor des Völkerkundemuseums, kennt sich damit bestens aus.
Hamburg. In Hamburg leben rund 515.000 Menschen mit Migrationshintergrund, das sind 29 Prozent der Bevölkerung. Die neue Abendblatt-Serie „Weltreise durch Hamburg“ stellt Menschen aus verschiedenen Kulturen vor, die in Hamburg eine neue Heimat gefunden haben. Zum Auftakt spricht Wulf Köpke, Direktor des Museums für Völkerkunde, über die aktuelle Situation der Migranten in der Stadt.
Hamburger Abendblatt: Hamburg nennt sich gern „Tor zur Welt“, im Stadtwappen ist das Tor aber geschlossen. Wie weltoffen ist die Hansestadt tatsächlich?
Wulf Köpke: Darauf gibt es keine leichte Antwort. Ich denke, an unserer Weltoffenheit müssen wir noch arbeiten.
Tatsache ist, dass es Menschen aus vielen Teilen der Welt nach Hamburg zieht. Tut die Stadt aus Ihrer Sicht genug für diese Bürger?
Köpke: Man muss sich nicht nur in Hamburg, sondern überall in Deutschland um die Menschen kümmern, die zu uns kommen. Wir dürfen nicht nur darüber sprechen, sondern müssen tatsächlich so etwas wie eine Willkommenskultur entwickeln und außerdem sehr viel mehr für die Integration tun.
Viele Flüchtlinge, die nach Hamburg kommen, würden gern hier bleiben. Olaf Scholz sagt, die Hamburger Flüchtlingspolitik sei die modernste in Deutschland. Teilen Sie seine Meinung?
Köpke: Das kann ich nicht beurteilen, weil mir der genaue bundesweite Überblick fehlt.
Es gibt wahrscheinlich Tausende Migranten ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Hamburg, darunter zum Beispiel viele Ecuadorianer. Halten Sie zu denen auch Kontakt? Wenn ja: Stürzt Sie das manchmal in Gewissenskonflikte?
Köpke: In unserem Museum dürfen selbstverständlich alle Menschen zu Gast sein. Man sieht es niemandem an, der zu uns kommt, welchen Aufenthaltsstatus er oder sie hat. Aber gelegentlich erfahren wir aus Gesprächen mit Museumsbesuchern, dass jemand einen ungeregelten Aufenthaltsstatus besitzt. Wir freuen uns dann, dass sie dennoch keine Scheu haben, ins Museum zu kommen.
Welche Grenzen dürfen Sie als Museumsdirektor nicht überschreiten?
Köpke: Die Grenzen des guten Geschmacks.
Besteht nicht die Gefahr, dass historisch, ethnisch oder politisch bedingte Konflikte der jeweiligen Herkunftsländer auch hier das Verhältnis der Menschen belasten, zum Beispiel zwischen Türken und Kurden, zwischen Indern und Pakistanern oder – ganz aktuell – zwischen Ukrainern und Russen
Köpke: Diese Befürchtung gibt es. Ich erinnere mich: Als zum Beispiel im Februar 1999 der Kurdenführer Abdullah Öcalan verhaftet wurde, gab es auch in Hamburg große Befürchtungen ...
Aber auch große kurdische Protestaktionen vor dem türkischen Generalkonsulat, die Polizeieinsätze erforderlich machten.
Köpke: Ja, die gab es auch. Aber der große Konflikt zwischen Türken und Kurden ist ausgeblieben. Ich finde, wenn wir die Menschen wirklich integrieren wollen, müssen wir ihnen auch zutrauen, dass sie mit diesen Fragen fertigwerden und die Konflikte aus ihren Heimatregionen nicht eins zu eins nach Deutschland übertragen. Die meisten, die hier leben, sind sich bewusst, dass sie jetzt in Deutschland wohnen und sich unserer Gesellschaft gegenüber loyal verhalten müssen. Wir sollten ihnen mehr zutrauen, auch wenn im Moment gewaltsame Konfrontationen zwischen Jesiden und Salafisten zu beklagen sind. Das scheint mir aber insgesamt gesehen eher eine Ausnahme zu sein. Oft unterschätzen wir unsere neuen Landsleute oder wie immer wir sie nennen...
Mitbürger?
Köpke: Diese Begriffe sind alle sehr schwammig.
Die offizielle Bezeichnung „Menschen mit Migrationshintergrund“ klingt furchtbar bürokratisch.
Köpke: Man sollte sie auf jeden Fall nicht in Schubladen stecken, sondern die Empfindlichkeiten abbauen. Es sind Menschen, die hier leben und ihre Steuern zahlen. Man sollte nicht immer wieder versuchen, diese Gruppe zu markieren. Das tun wir ja mit den in Hamburg lebenden Bayern auch nicht.
Aber im Unterschied zu den Bayern, die vielleicht ganz lustige Trachten und Bräuche haben, bringen die Migranten eine jeweils eigene Geschichte und Kultur mit, die sich durchaus von jener der Bayern unterscheidet.
Köpke: Das ist richtig, man sollte die Begriffe Integration und Assimilation nicht verwechseln. Integration bedeutet, dass Fremde mit ihrer Geschichte in unsere Gesellschaft aufgenommen werden. Sie sollen ihre Geschichte behalten, sie einbringen und unsere Gesellschaft bereichern. Integration bedeutet, dass beide Seiten bereitwillig aufeinander zugehen. Assimilation würde heißen, diese Geschichte zu vergessen. Assimilation ist einseitig, die aufnehmende Gesellschaft bewegt sich nicht.
Auf der Homepage Ihres Museums heißt es: Wir bieten ein Forum für den partnerschaftlichen Austausch zwischen Menschen aller Kulturen. Wie sieht das konkret aus?
Köpke: Wir machen zum Beispiel Veranstaltungen, in denen sich viele Menschen begegnen. Für mich ist eine Veranstaltung dann erfolgreich, wenn daran etwa ebenso viel gebürtige Deutsche wie Leute teilnehmen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind. Eine Veranstaltung mit 90 Prozent Deutschen und nur zehn Prozent Menschen aus anderen Kulturen wäre problematisch. Ein umgekehrtes Mischungsverhältnis übrigens auch. Es geht immer um Begegnung. Übrigens bemühen wir uns bei diesen Gelegenheiten auch, deutsche Kultur zu vermitteln und damit aufzuzeigen, was Europa bedeutet: Wie „ticken“ wir, denken wir, wie benehmen wir uns...
Worauf achten Sie, wenn Sie selbst Kontakte zu anderen Kulturkreisen in Hamburg knüpfen und pflegen? Und für uns Nicht-Völkerkundler: Gibt es einen sicheren Weg, Fettnäpfchen zu vermeiden?
Köpke: Fettnäpfchen gibt es überall, große und kleine. Man sollte aber keine Angst davor haben, sondern den Menschen mit Respekt begegnen, dann wird einem auch der versehentliche Tritt in ein Fettnäpfchen in der Regel schnell verziehen.
Sind Sie selbst schon einmal in ein Fettnäpfchen getreten?
Köpke: Bestimmt nicht nur einmal.
Erinnern Sie sich an einen konkreten Fall?
Köpke: Als wir das Projekt „Afrikaner in Hamburg“ vorbereiteten, habe ich auf der Wandsbeker Chaussee einige afrikanische Läden von außen fotografiert. Nach deutschem Recht ist das kein Problem, aber die Ladenbesitzer waren sehr erbost, weil ich sie vorher nicht gefragt hatte. Obwohl ich bewusst keine Menschen fotografiert hatte, fühlten sie sich in ihren Persönlichkeitsrechten beeinträchtigt. Durch die Vermittlung eines Afrikaners konnte das dann ausgeräumt werden. Heute würde mir so etwas nicht mehr passieren.
Sie haben mal erzählt, dass Sie das Käsemachen bei Portugiesen in Harburg gelernt haben. Gibt es interessante Orte, an denen Hamburg sich gar nicht anfühlt wie Hamburg, sondern zum Beispiel wie Lissabon oder Mumbai?
Köpke: Ich bin zum Beispiel vor ein paar Monaten mit Indern losgezogen und habe Figuren für einen hinduistischen Altar gekauft. Da sind wir dann durch das indische Hamburg gelaufen. Es war wie eine völlig andere Welt. Und wenn man dort mit Indern unterwegs ist, wird man auch völlig anders behandelt. Ganz ähnlich erging es mir auch, als ich mal zusammen mit Afrikanern das afrikanische Hamburg erkundet habe. Da gab es Situationen, in denen ich der einzige Weiße war. Dabei fühlt man sich schon wie in Afrika – und ist merkwürdig berührt, wenn man sich ein paar Minuten später in der Hamburger S-Bahn wiederfindet.
Tritt die Kultur des Herkunftslandes für die Menschen, die gekommen sind, um dauerhaft zu bleiben, nicht zwangsläufig mit der Zeit in den Hintergrund? Oder anders gefragt: Steht unter Umständen das Bemühen um die Bewahrung der eigenen kulturellen Identität einer Integration in die deutsche Gesellschaft im Wege?
Köpke: Integration braucht Zeit. Mir sagte mal ein Albaner: Wir sind ausgewandert, damit unsere Kinder es einmal besser haben, die Auswanderer-Generation ist immer verloren. Viele haben auch zunächst gar nicht vor, für immer zu bleiben. Dass es dann manchmal doch anders läuft, ist für sie erst einmal gar nicht absehbar. In der zweiten und dritten Generation kann sich die Bedeutung der Herkunftskultur in einigen Fällen abschwächen, sie kann aber auch ansteigen.
Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass es Migranten gibt, die seit Jahrzehnten in Hamburg leben und noch immer kaum Deutsch sprechen?
Köpke: Das finde ich problematisch. Das liegt aber auch an Versäumnissen der Gesellschaft. Ich habe seit meinen ersten Kontakten mit Migranten ab 1971 beobachten müssen, dass Migranten und vor allem auch deren Kinder in den Schulen oft zu wenig gefördert worden sind. Da gibt es Defizite der vergangenen Jahrzehnte, an denen wir noch jetzt leiden. Inzwischen ist das Bewusstsein für diese Probleme aber stark gewachsen. Andererseits ist auch klar: Wir müssen den Leuten, die zu uns kommen, deutlich sagen: Wenn ihr auf Dauer in diesem Land leben wollt, müsst ihr euch auch darum bemühen, die Sprache zu beherrschen.
Welche Möglichkeiten bieten sich uns, der alltäglich gelebten Kultur anderer Völker in Hamburg zu begegnen?
Köpke: Ich beobachte da eine große Offenheit, die sich aus den Begegnungen in unserem Museum ergibt. Und diese Begegnungen reichen natürlich weit über das Museum hinaus. Konkret ist im Alltag eine leichte Möglichkeit des Kontaktes zum Beispiel, einfach mit den Nachbarn zu reden. Man kann sich mit den türkischen Geschäftsleuten Zeit für einen Schwatz nehmen, mit dem Taxifahrer, in der Eisdiele. In jeder Schulklasse sind heute Kinder „mit Migrationshintergrund“, das bietet Eltern hervorragende Kontaktmöglichkeiten untereinander. Es gibt zahlreiche interkulturelle Straßenfeste, manche engagieren sich sehr stark in kirchlichen Gruppen oder übernehmen Patenschaften für Flüchtlinge.
Ist es zum Beispiel möglich, an einem afrikanischen Gottesdienst teilzunehmen, ohne abgelehnt oder als Eindringling empfunden zu werden?
Köpke: Selbstverständlich. Ich habe das auch schon verschiedentlich gemacht. Vor einigen Jahren berichteten auch die bei unserem Afrika-Schwerpunkt mitwirkenden Hamburger Schulklassen, dass sie von den Afrikanern, mit denen sie zusammenarbeiteten, auch eingeladen worden waren, an Gottesdiensten oder anderen Veranstaltungen und Treffen teilzunehmen. Häufig kann man auch Menschen, die man nur flüchtig kennt, wie den Gemüsehändler, fragen, ob er einen zu einer religiösen Feier, ob in Kirche oder Moschee, mitnimmt. Fast immer werden sie stolz sein, einen Besucher mitzubringen.
Kann das Völkerkundemuseum so etwas wie eine interkulturelle Kontaktbörse sein?
Köpke: Das geht ganz unproblematisch, zum Beispiel bei den zahlreichen Veranstaltungen, auf denen sich die verschiedenen Kulturen präsentieren. Da kommt es zu Begegnungen, mitunter entstehen auch Beziehungen und manchmal sogar Freundschaften. Allerdings braucht so etwas Zeit.
Apropos Zeit: Jules Verne hat 1873 für seine literarische Weltreise 80 Tage gebraucht. Wie lange braucht man für eine Weltreise im Hamburger Museum für Völkerkunde?
Köpke: Ich denke, dass man dafür jeweils zwei oder drei Stunden braucht, mit einem Stopp in unserem Restaurant vielleicht noch ein bisschen länger. Wir sind dabei, verschiedene Routen zu erarbeiten, die demnächst als Apps heruntergeladen werden können.
Serie „Weltreise durch Hamburg“, erste Folge: Mexiko (17.9.). Weitere Länder: Russland, Indonesien, Portugal, China, Äthiopien, Polen, Türkei, Ecuador, Marokko, Kuba, Ghana