Serie Kultur erfahren: In seiner Sommerausstellung stellt das Staatliche Museum Schwerin Werke von Kirchner und Wiegers gegenüber.

Hamburg. Weil der Arzt dem gesundheitlich angeschlagenen jungen Künstler Hochgebirgsluft verordnet hatte, war der Niederländer Jan Wiegers (1893–1959) im April 1920 nach Davos gereist. Dass er dort auf den expressionistischen Malerkollegen Ernst Ludwig Kirchner traf, der sich in dem schweizerischen Kurort von einem Nervenleiden erholte und dabei ein bedeutsames Spätwerk schuf, war reiner Zufall, hatte aber enorme Folgen. Der künstlerische Ertrag dieses Treffens ist zurzeit im Staatlichen Museum Schwerin in der Ausstellung „Expressionistische Begegnung: Ernst Ludwig Kirchner/Jan Wiegers“ zu besichtigen.

Der Einfluss, den Kirchner auf Wiegers ausübte, war stärker als umgekehrt

Wer an niederländische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts denkt, dem fallen die abstrakten Farbfeldbilder von Piet Mondrian ein oder die Konstruktivisten der 1917 in Leiden gegründeten Künstlervereinigung „De Stijl“, aber kaum expressionistische Gemälde. Dass es mit Jan Wiegers und Charley Toorop, Hendrik Chabot, Leo Gestel, Kees van Dongen, Piet Wiegman durchaus niederländische Expressionisten gab, ist nur wenig bekannt. Dafür lässt sich das relativ späte Aufblühen dieses Stils ziemlich genau nachvollziehen. Eine wesentliche Voraussetzung war die folgenreiche Begegnung in Davos, der die Schweriner Ausstellung mit etwa 100 Werken beider Künstler nachspürt.

„Jan Wiegers war 1920 bereits ein ausgebildeter und erfolgreicher Künstler, es gab daher kein Lehrer-Schüler-Verhältnis, trotzdem hat er sich nach der Begegnung mit Kirchner künstlerisch völlig neu erfunden. Er wurde sozusagen über Nacht zum Expressionisten und hat nach seiner Rückkehr nach Groningen sein Umfeld stark beeinflusst“, sagt Ausstellungskuratorin Adina Christine Rösch. Nach 1920 gab es 1925 und 1926 weitere Begegnungen in Davos sowie einen Briefwechsel, der leider teils verschollen ist und teils vernichtet wurde. Das Konzept der Ausstellung besteht in der Gegenüberstellung der beiden Künstler, wobei deutlich wird, dass der Einfluss, den Kirchner auf den 13 Jahre jüngeren Wiegers ausübte, ungleich stärker war als umgekehrt. Groningen war zwar kein Zentrum der Avantgarde, doch kam es hier unter Mitwirkung von Wiegers 1918 zur Gründung der Künstlergruppe „De Ploeg“, die Elemente des Kubismus und Luminismus aufgriff und sich von van Gogh anregen ließ. Das zeigt sich in der Ausstellung an Wiegers’ 1918 entstandenen Porträt, das Einflüsse des Franzosen Le Fauconnier aufweist, der sich während des Ersten Weltkrieges in Holland aufhielt. Hier ist einerseits ein gemäßigter Kubismus zu erkennen, zugleich bereits eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber dem Expressionismus.

Schon 1912 hatte Wiegers deutsche Expressionisten auf einer Ausstellung in Köln gesehen, darunter August Macke und „Brücke“-Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner. Welche Wirkung das auf ihn ausgeübt hat, lässt sich schwer ermessen, zumal sein Frühwerk zum großen Teil verschollen ist. Aber eine Affinität zum expressionistischen Ausdruck kann man unterstellen, sonst wäre die persönliche Begegnung mit Kirchner kaum so folgenreich gewesen.

In Davos wurde Wiegers Stil ungemein farbintensiv und dynamisch. Reizvoll sind die direkten Gegenüberstellungen von Bildern mit gleichen oder ähnlichen Motiven, bei denen beide Maler ihre jeweiligen Stärken zeigen. Besonders deutlich wird das im letzten Raum der Ausstellung, wo an einer Wand Kirchners alpines Wintermotiv „Wildboden im Schnee“ von 1924 mit Wiegers zwei Jahre später entstandenem „Davos, Frauenkirch“ direkt nebeneinander hängen. Während Wiegers an das Motiv – es handelt sich um eine eingeschneite Berghütte – dicht herangeht, bindet Kirchner das Holzhaus in eine weite Berglandschaft ein. Wiegers wirkt hier expressiver, Kirchners Komposition ist dagegen deutlich ruhiger.

Zu den Höhepunkten der Schau gehören zwei 1925 bei der zweiten Begegnung in Davos entstanden Bilder, auf denen sich die Maler wechselseitig porträtiert haben. Hier wirkt Wiegers Bild, das Komplementärfarben direkt gegeneinandersetzt und Kirchner einerseits realitätsnah, zugleich aber ungemein expressiv darstellt, überzeugender als das farblich deutlich zurückhaltender und in der Komposition eher konventionelle Kirchner-Bild. Mit dieser ungewöhnlichen Schau lädt das Staatliche Museum Schwerin, das über eine vorzügliche Sammlung niederländischer Kunst des 17. Jahrhunderts verfügt, dazu ein, einen der interessanten holländischen Maler des frühen 20. Jahrhunderts und damit zugleich eine hierzulande bislang kaum beachtete Facette der Kunst unseres Nachbarlandes kennenzulernen. Wer durch die klug konzipierte Ausstellung mit ihren farbintensiven Bilder flaniert, begegnet zudem Zeugnissen einer Künstlerfreundschaft, die für Kirchner in der letzten Lebensphase vor seinem Freitod 1938 besonders wichtig war.

„Expressionistische Begegnung: Ernst Ludwig Kirchner – Jan Wiegers“ Staatliches Museum Schwerin, Alter Garten 3, 19055 Schwerin, bis 28.9., Di–So 10.00–18.00, www.museum-schwerin.de