Seit einigen Wochen ist das Musical, das in Hamburg Uraufführung feierte, in New York zu sehen. Ein Treffen mit Darsteller Terence Archie, der den Bühnenboxring in beiden Städten kennt.

Noch stehen die Lichter am Broadway in Konkurrenz zum Tageslicht. Doch selbst am frühen Abend entfaltet das Glitzern auf der berühmtesten Show-Meile der Welt eine ganz eigene Strahlkraft. Es wirkt wie ein Versprechen.

Mitten in New York wird seit einigen Wochen eine Geschichte gezeigt, die eine Menge vom viel zitierten amerikanischen Traum erzählt. Davon, es schaffen zu können. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Oder eben vom Amateurboxer zum Champion. Der Faustkampffilm „Rocky“ von 1976 ist fester Bestandteil der popkulturellen DNA des Landes. Die Musicalfassung feierte allerdings vor anderthalb Jahren nicht in New York, sondern in Hamburg Premiere. Das spektakuläre Singspiel ist das erste, das von Deutschland ins Mutterland des Showgeschäfts importiert wurde. Von der Reeperbahn an den Broadway. Vom Operettenhaus ins Winter Garden Theatre. Von den Darstellern hat einer den Transfer über den Atlantik mitgemacht. Terence Archie, der Rockys Gegner Apollo Creed spielt.

„Die Sensibilitäten in den USA sind andere. Deshalb haben wir Anpassungen vorgenommen. Wir haben ein paar Lieder gestrichen. Das amerikanische Publikum braucht Musik, die etwas schneller ist. Die Zuschauer hier sind auch etwas lauter als die Deutschen in ihren Reaktionen. Aber die Story ist immer noch die gleiche. Liebe siegt“, sagt Archie, lacht und zieht schelmisch eine Augenbraue hoch. Zur Retro-Brille trägt der gebürtige Amerikaner eine blaue Wollmütze. Sein Schnauzer liegt wie ein zweites Lächeln über seinem Mund. Der Kinnbart ist akkurat gestutzt. Während der Darsteller auf der Bühne entweder in glänzenden Anzügen wie ein Funk-Star der 70er-Jahre aussieht oder eben in Sporthosen agiert, trägt er zum Interview Jeans und Pullover. Archie hockt in einer der noch leeren Sitzreihen des Winter Garden Theatre. Der Saal wirkt mit seinem bordeauxfarbenen Teppich sowie mit der Kassettendecke samt Deko-Drachen, Musen-Figuren und Kronleuchtern wesentlich plüschiger als das funktional ausgestattete Operettenhaus.

Im März 1911 wurde dieses Theater mit seinen rund 1500 Sitzplätzen eröffnet. In den 30er- und 40er-Jahren reckten dort die Tänzerinnen der „Ziegfeld Follies“ ihre Beine in die Höhe. Die „West Side Story“ feierte 1957 auf der Traditionsbühne ihre Uraufführung. „Cats“ war seit 1982 für ganze 18 Jahre in dem Haus unweit des Times Square zu sehen. Der jüngste Kassenschlager war „Mamma Mia!“. Und nun prangt da in großen roten Lettern „Rocky Broadway“ auf einem Schild über der Straße. Eine kleinere Tafel preist die Show mit einem Zitat des Senders NBC an: „Game-Changing, Jaw-Dropping, Astounding“. Was schlichtweg bedeutet, dass dem Zuschauer vor Begeisterung der Kiefer herunterklappt. Andere US-Medien gehen mit der Inszenierung nicht ganz so wohlwollend ins Gericht.

Der renommierte „New Yorker“ urteilt, dass Regisseur Alex Timbers den Film zu stark nacherzähle und die Charaktere zu Gunsten des Sets opfere. Ebenso wie im Veranstaltungsmagazin „Time Out New York“ erwähnt der Kritiker nicht, dass der Bühnenboxring an der Elbe das Rampenlicht der Welt erblickte. Die Fachwebseite „TheaterMania“ schreibt lediglich von einem „pre-Broadway tryout“. Hamburg als Versuchsfeld also. Eben nur das Tor zur Musicalwelt. Bevor der Dampfer in den echten und einzigen Show-Hafen einfährt. Dieser Tenor schwingt zwischen den Zeilen überdeutlich mit. Ein kleiner Stich für die Seele jener, die Hamburg stolz als Musicalmetropole vermarkten. Aber Lokalpatriotismus ist eben keine hanseatische Erfindung.

Archies Herz schlägt für beide Orte. „Die Produktion in Hamburg ist äußerst real. Sie ist die Basis für all das, was jetzt am Broadway passiert. Die Arbeit drüben hat mich sehr inspiriert“, erklärt er mit Nachdruck. Vor allem vermisst er seine Kollegen, aber auch die Zeit auf St.Pauli. Nur 15 Minuten habe er von seiner Wohnung am Fischmarkt bis zum Theater laufen müssen. Ein täglicher Spaziergang, der den Kiez Stück für Stück in ihn einsickern ließ. Rasch erkundigt er sich daher auch, ob die Esso-Häuser denn noch stehen würden.

In der Broadway-Inszenierung kämpft Archie nun nicht mehr gegen den Hamburger Rocky Drew Sarich, sondern gegen Andy Karl. „Das sind zwei unterschiedliche Bühnenfamilien“, sagt er diplomatisch und legt seinen linken Arm auf einem der braunen Theatersessel ab. In der Rechten hält Archie einen knallgrünen Obstsaft, von dem er zwischendurch immer wieder trinkt. Stärkung für die Vorstellung, die in anderthalb Stunden beginnt. Von Nervosität jedoch keine Spur. Würde ein Prototyp des lässigen Amis gesucht, Archie stünde ganz oben auf der Liste. Das Gespräch mit ihm ist ein entspannter Wechsel zwischen Deutsch und Englisch. Immerhin hat der Darsteller einen Sprachcrashkursus absolviert, um für das deutsche Publikum in dessen Landessprache singen zu können.

Acht Mal in der Woche stand er in Hamburg auf der Bühne. Jede Zeile hat da im Gedächtnis eine passgenaue Spur. Ganz so, wie die ausgetüftelte Bühnentechnik des Stücks auf gut geölten Schienen läuft. Bei den dreimonatigen Proben vor der Broadway-Premiere sei er zu Beginn ein ums andere Mal von seiner Muttersprache ins Deutsche gerutscht, erzählt Archie. „Wenn ich die Lieder singe, denke ich die manchmal noch auf Deutsch“, sagt der Akteur, während im Hintergrund der Soundcheck läuft.

Auch wenn das Musicalgeschäft zunehmend globalisiert wird und Ableger von Produktionen rund um den Erdball zu erleben sind, stellt Archie doch Unterschiede fest. Vor allem, was die Mentalitäten hinter der Bühne angeht. „In Hamburg ist alles seeehr ordentlich“, sagt er. „Am Broadway wird die Arbeit natürlich auch fertig. Aber die Herangehensweise ist ein bisschen lockerer“, erzählt Archie, der in Detroit geboren wurde, vor seinem Arbeitsausflug nach Hamburg jedoch bereits für 15 Jahre Bühnenerfahrung in New York gesammelt hat.

Die Stimmung backstage mag entspannter sein, der Druck, als Darsteller im Musical-Business zu bestehen, ist jedoch ungleich höher, wie Archie erläutert. „In Hamburg wissen die Mitglieder der Crew, dass ihr Vertrag irgendwann im nächsten Jahr endet. Die Leute haben Zeit, sich auch mal mit ihren Freunden zu treffen“, erzählt er. In der Stadt, die niemals schläft, sei alles schneller getaktet. Seine Kollegen sprechen weiterhin für andere Rollen vor, um im Geschäft und im Gespräch zu bleiben.

„Der Wettkampf in New York ist brutal. Wenn wir arbeitslos werden, sind wir für uns verantwortlich. Deutschland hingegen kümmert sich so um seine Bürger, dass sie sich weniger sorgen müssen“, erklärt Archie mit ernstem Tonfall. Und er ergänzt: „Wir wissen nie, wie lange eine Show läuft.“ Sprich: Wenn die Zahlen nicht stimmen, fällt der letzte Vorhang schnell. Der Broadway ist ein nervöses Pflaster. „Rocky“ zum Beispiel konkurriert derzeit unter anderem mit „Von Mäusen und Menschen“, das mit James Franco und Chris O’Dowd zwei angesagte Filmschauspieler aufweist. Das Frühjahr ist die Hochsaison für Broadway-Premieren, da Ende April stets die Nominierungen für den Musical-Oscar Tony bekannt gegeben werden. Allein 13 Produktionen starteten in den vergangenen vier Wochen, darunter „Aladdin“, das auch im Gespräch war für das neue Stage-Theater im Hamburger Hafen.

Auf einen der begehrten Tony Awards, die am 8. Juni in der New Yorker Radio City Music Hall verliehen werden, hat „Rocky“ gute Chancen. Andy Karl ist als bester Hauptdarsteller nominiert, Steven Hoggett und Kelly Devine als beste Choreographen. Zudem winken Preise für Lichtdesign und (wenig überraschend) das Bühnenbild.

Archie, der mit seiner Frau im New Yorker Stadtteil Harlem lebt, betont dann noch, dass die amerikanischen Zuschauer mit der Geschichte von Rocky intimer vertraut sind als die deutschen. Es sei ironisch, dass der Superstar Apollo Creed, der kraftstrotzend Kapital und Erfolg verkörpert, ein Schwarzer ist, wo doch die Afroamerikaner in den USA so viele Ungerechtigkeiten zu erdulden hatten. „Uns liegt diese Story näher am Herzen“, sagt Archie. Und diese enge Verbindung ist auch bei der Vorstellung am Abend stark zu spüren.

Das Publikum ist durch die Generationen hinweg gemischt, aber auffällig männlich geprägt. Ein Vater verweilt mit seinem Sohn vor dem Merchandise-Stand im Foyer, der wie ein kleiner Boxring gebaut ist. Ganze Cliquen schwerer Typen, die vermutlich das erste Mal einen Fuß in ein Broadway-Musical setzen, strömen hinein. Baseballkappen und Strickmützen auf den Köpfen. Jacken spannen über dem ein oder anderen Bauch. Für die Männer gibt es – zum Underdog-unfreundlichen Preis von 15 Dollar (circa 11 Euro) – an der Bar hinter den Sitzreihen harte Drinks mit klangvollen Namen. Den „Broken Nose Bourbon“ oder den „Painkiller Gin“ etwa. Für Damen ist der „Adrian Amaretto“ im Angebot, benannt nach Rockys schüchternem Schwarm. Die Liebe zur Inszenierung steckt im Detail.

In Plasikbechern transportieren die Zuschauer Hochprozentiges zu den Plätzen, manche kaufen sich vorab noch ein paar Knabbereien. Der Verzehr ist während der Vorstellung erlaubt. Ein Kauen und Knistern beginnt. Die Atmosphäre gleicht eher einem (wenn auch kostspieligen) Kinobesuch. Die Preise reichen von 60 bis über 200 Dollar.

Die Show startet wie in Hamburg im Trainingsstall von Rocky, der auch „The Italian Stallion“ genannt wird, der italienische Hengst. Schnell zeigt sich jedoch der Unterschied zur Reeperbahn-Version. Da die Darsteller in ihrer Muttersprache agieren, können sie mehr nuancieren, zum Beispiel Slang einbauen. „Street Credibility“ heißt das auf Amerikanisch. Die Straße, sie ist glaubwürdiger zu schmecken im „Rocky“-Mutterland. Und „My Nose Ain’t Broken“ klingt als Songtitel nun mal cooler als „Die Nase hält noch“.

Auch die Bühneneinrichtung, deren Elemente sich wie in Hamburg eindrucksvoll wie von Geisterhand verschieben, wirkt insgesamt etwas rauer, weniger glatt gestylt. Die Passage, in der Terence Archie alias Apollo Creed plant, gegen Rocky anzutreten, gerät zur exaltierten Tanznummer. Seine Darbietung wird in der „New Yorker“-Kritik als „joyously and attractively“ gelobt. Als „freudig und anziehend“.

In den ruhigeren Passagen, etwa wenn Rocky seine Adrian zum Eislaufen ausführt, ist das Rauschen der Klimaanlage deutlich zu hören. Ein Geräusch, das amerikanische Ohren vermutlich auszublenden gelernt haben.

Nach der Pause kommt das Publikum richtig in Fahrt. Als Rocky zum Training die obligatorischen rohen Eier schluckt, gibt es donnernden Szenenapplaus. Sein Lauf zum Überhit „Eye Of The Tiger“ wird ebenso bejubelt wie der Moment, in dem sich Adrian mit einem entschiedenen „I’m done“ von ihrem tyrannischen Bruder emanzipiert. Und offen stehen einige Münder tatsächlich, als der Boxring mitten ins Auditorium verlegt wird. Auch in New York ist diese Konstruktion der eigentliche Star.

Als Rocky schließlich zum großen Finale einzieht, recken sich ihm zahlreiche Hände entgegen, die er im Vorübergehen abklatscht. Die Amerikaner, sie lieben das Pathos. Wenn er gegen Apollo Creed austeilt, schreien die Zuschauer immer und immer wieder lauthals „Rocky. Rooocky!“ Und zum Schlussapplaus hält es niemanden auf den Sitzen. „Wow, so much energy“, ruft ein Mann völlig begeistert. So viel Energie. Beim Rausgehen vergisst ein anderer seine Brille auf dem Sitz. Aufgeladen mit Euphorie, verwandelt für ein paar Stunden, drängt es ihn hinaus. Auf dem Broadway ist es dunkel geworden. Die Lichter erstrahlen dafür umso heller.