Ein Hamburger Familienunternehmen prägt seit Jahrzehnten die deutsche Kinder- und Jugendliteratur. Ein Hausbesuch an den beiden Standorten der Verlagsgruppe Oetinger.
Hamburg. Bullerbü ist zugepflastert. In der Einfahrt parken Autos, ein Neubau ist hinzugekommen, der Malermeister von nebenan hat sein Schwimmbad aufgegeben, so dass der Raum für Konferenzen genutzt werden kann. Auch die „Kleine Alster“ ist längst den Bedürfnissen eines mittelständischen Unternehmens gewichen.
Den Gartenteich hat Friedrich Oetinger einst selbst angelegt. Nicht nur deshalb nennen die Mitarbeiterinnen das Gelände der Verlagsgruppe Oetinger auch heute noch augenzwinkernd „Bullerbü“. Es ist einfach idyllisch da draußen in Duvenstedt. In dem Wohnhaus, einer Kaffeemühle von 1936, hat Heidi Oetinger, die große alte Dame der deutschen Kinder- und Jugendbuchszene, bis zu ihrem Tod 2009 gelebt. Noch heute kuscheln sich schlichte Holzmöbel an die Wände und strahlen eine herzwärmende Geborgenheit aus. Generationen von Kindern haben Astrid Lindgren dafür geliebt, die Schöpferin von Bullerbü und der unsterblichen Pippi, mit der Oetinger eine einzigartige Geschichte verbindet.
Das Haus behauptet sich als einer der wenigen konzernunabhängigen Verlage. Mit ihrer Backlist haben, so scheint es, Heidi Oetingers Tochter Silke Weitendorf und deren drei erwachsene Kinder den deutschen Kinder- und Jugendbuchmarkt fest im Griff. Man kann sich fast fragen, welche der Figuren oder auch ganzen Fantasiewelten, die die jungen Leser begleiten, eigentlich nicht von der Duvenstedter Apfelwiese kommen. Das Spektrum reicht von Klassikern wie Paul Maars Sams über die unappetitlich-frechen „Olchis“ aus der Feder von Erhard Dietl und Cornelia Funkes Tintenwelt bis zu Suzanne Collins’ finsteren „Tributen von Panem“. Oetinger hat die deutsche Kinder- und Jugendliteratur seit dem Zweiten Weltkrieg geprägt wie kaum ein zweiter Verlag. Dass die vielfach preisgekrönte Autorin Kirsten Boie für ihr Bändchen „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ gerade den hochangesehenen „Luchs“-Preis 2013 bekommen hat, ist fast Routine.
Das Unternehmen zählt 207 Mitarbeiter, der jährliche Umsatz liegt bei 50 Millionen Euro. Zehn Verlage gehören zur Gruppe, darunter neben dem Oetinger Verlag selbst der Cäcilie Dressler Verlag, in dem Cornelia Funke erscheint, oder der Verlag für Vorlesebücher, Ellermann. Dazu kommen Beteiligungen und Internetportale. Die Zahl schwankt, wie das bei einem lebendigen Organismus eben so ist. Jüngster Coup: In wenigen Wochen geht das Onlineportal „TigerCreate“ an den Markt, mit dem sich interaktive Kinderbücher auf die IT-Anforderungen der unterschiedlichsten Plattformen zuschneiden lassen. Wohlgemerkt: auch Kinderbücher der Konkurrenz.
„Wir haben einen Anspruch“, sagt Silke Weitendorf. Ihr Credo: „Gute Bücher für Kinder zu machen. Wir möchten dazu beitragen, dass Kinder durch gute Texte die Welt begreifen lernen.“ Aber woran erkennt man gute Literatur? Da hält es Weitendorf mit Astrid Lindgren: „Das merkt man, wenn man einen Text liest. Wenn ein Buch nicht gut ist, steigen die Kinder aus.“
Weitendorf spricht über all diese Dinge mit der Präsenz desjenigen, der mit ihnen ständig zu tun hat. 1941 geboren, ist sie gleichsam mit dem Unternehmen mitgewachsen. 1946 gründete ihr Stiefvater Friedrich Oetinger, von Haus aus Buchhändler, den gleichnamigen Verlag, 1948 erschien das erste Buch, „Der Kinderknigge“ von Anton Tesarek. Wenig später holte Oetinger ein Buch einer Autorin nach Deutschland, die hierzulande niemand kannte. „Pippi Langstrumpf“ von Astrid Lindgren erschien 1949. Es war der Beginn einer wunderbaren Beziehung. Der Verlag hat die Autorin in Deutschland berühmt gemacht und in ihrem Gefolge der bis dahin weitgehend unentdeckten schwedischen Kinderliteratur den Weg geebnet – und ist darüber zu einem der renommiertesten Kinderbuchverlage geworden.
Weitendorf streicht über einen schmalen Band auf dem Tisch, die Erstausgabe von „Pippi“. „So hauchdünne Seiten“, sagt sie. „Heute nehmen wir volumenhaltiges Papier.“ Und lächelt, als stellte sie sich kleine tollpatschige Hände vor, die ein Lieblingsbuch überall mit hinschleppen wie einen Teddy.
Ob es an der Materie liegt? Weitendorf hat ihr Leben der Kinder- und Jugendliteratur geweiht – und sie macht nicht den Eindruck, als ob irgendetwas sie langweilen könnte. Von den Anfängen erzählt die Frau im schmalen Blazer so lebendig, als wäre es kürzlich gewesen, dass sie allabendlich mit dem Drucker zusammen Hunderte von Büchern von dessen Kofferraum in den Keller des Mietshauses trug, in dem die Familie damals noch lebte: zweieinhalb Zimmer für Eltern, Kind und Verlag. Als ein Buchhalter dazustieß, saß der eben in der Küche. Dass die kleine Silke mithalf, fand Oetinger genauso selbstverständlich wie, sie nach ihrer Meinung über Illustrationen zu fragen. „Das mache ich ab und zu auch bei meinen Enkeln“, sagt Weitendorf, zurzeit hat sie acht.
Die kleine Anekdote spricht für den Geist, der in diesem Haus herrscht. Im Mittelpunkt, das spürt man, stehen die Belange der Kinder. Natürlich muss Oetinger wirtschaftlich arbeiten wie jedes Unternehmen. Doch das wichtigste Kapital ist das über die Jahrzehnte gewachsene Vertrauen der Leserschaft. Zwischen den Autoren und ihren Lektoren wiederum wachsen langfristige, oft hochinspirierende Beziehungen. Die Kontinuität eines Familienunternehmens wissen sie sehr zu schätzen. „Manche Leute kenne ich seit 30 Jahren“ erzählt Kirsten Boie, die Oetinger seit Mitte der 80er-Jahre ein gutes und erfolgreiches Buch nach dem anderen beschert. „Da kann man ein Verhältnis aufbauen. Das kann dann auch mal schwanken, wie bei einer langen Ehe.“
Wie schaffen die das nur, seit Jahrzehnten einen Volltreffer nach dem anderen zu landen? Etwas tritt deutlich hervor, und das ist die Bereitschaft der Beteiligten, mit der Zeit zu gehen. Silke Weitendorf erinnert sich noch an die Zeiten, in denen man Geschäfte per Handschlag besiegelte: „Heutzutage braucht man für ein Buchprojekt in der Regel mehrere Verträge von Dutzenden Seiten.“ Die Usancen hätten sich eben geändert. Vokabeln wie „Auswertungsstufen“ oder „Titelschutz“ kommen Weitendorf flüssig über die Lippen.
Auch manches Buch bekommt eine Verjüngungskur. Auch wenn Originale möglichst in ihrer ursprünglichen Form erhalten bleiben sollen, ist es gerade bei Büchern für kleine Kinder mitunter sinnvoll, sie behutsam zu modernisieren. Da wird aus einer Kindergärtnerin schon mal eine Erzieherin. Bei manch schreiend bunter Umschlaggestaltung möchten sich Eltern mit Grausen abwenden – aber wenn sie doch nunmal das Kind anspricht? Darauf kommt es an, da hat Oetinger seine Hausaufgaben gemacht. Und rund um Kinderbuchreihen entwickelt man ganze Welten, ob das Petterson und Findus sind oder der kleine Ritter Trenk.
Die echte Herausforderung aber liegt in den veränderten Lesegewohnheiten unter dem Einfluss der neuen Medien. Oetinger hat sie früh angenommen: 2005 hat Jan Weitendorf, der älteste Sohn, den Hörbuchverlag Oetinger Audio gegründet. Und der jüngste Sohn, Till Weitendorf, hat sich dem digitalen Wandel verschrieben. Er empfängt in der Dependance des Verlags nahe dem Altonaer Bahnhof. Drei Loftetagen hat Oetinger dort mittlerweile, das urbane Gegenstück zu Duvenstedt. In den Regalen zeugen Plüschdrachen, Schlüsselanhänger und die ganze Vielfalt des „Non-Books“ vom Kampf um die schmale Zielgruppe Kind, für die in Deutschland überproportional viel Geld aufgewendet wird. Weitendorf hat E-Books und digitale Kinderbücher für den Schulunterricht vorangetrieben und als erster Kinderbuchverleger eine App herausgebracht.
„Es gab durchaus Berührungsängste im Verlag, was die neuen Medien betrifft“, erzählt er. „So eine digitale Neuentwicklung ist sehr teuer, und es dauert einfach, bis sich eine wirtschaftliche Perspektive einstellt.“ Er ist drangeblieben. „Ich wollte nicht der Games-Branche das Feld überlassen. Ich will die Kultur, die wir haben, ins Digitale übertragen.“
Weitendorfs Ansatz überzeugt auch die Kinderbuchexpertin Birgit Dankert, die mit der Verlagsgeschichte im Detail vertraut ist. „Oetinger tut viel dafür, die neuen Medien nicht nur auszubeuten, sondern mit Gewinn für die Kinder weiterzuentwickeln“, sagt sie. „Zurzeit bietet die digitale Kunstform noch keine eigene künstlerische Qualität für Kinder. Auf diesen Urknall warten wir noch. Aber die Buchform hat sich ja auch über Jahrhunderte entwickelt.“
Vom Besprechungszimmer unterm Dach aus kann man ab und zu ein Schiff tuten hören. Der Blick geht über die Dächer von Altona, leicht und blass spannt sich darüber der Winterhimmel. Er lässt viel Platz für Gedanken, Fantasien, Visionen. Zum Wohle der jungen Leser.