In der Typologie der Konzertgänger ist für alle Platz, die bei Rock- und Popkonzerten regelmäßig zu erleben sind. Soziologisch lassen sich elf Typen mit verschiedenen Marotten unterscheiden.
Die konzertlose Zeit nach dem Jahreswechsel ist vorbei, die Plakate und Programmhefte der Konzertarenen und Liveclubs sind auch dieses Jahr wieder prall gefüllt. Und wer im Docks, in der Großen Freiheit oder im Logo nicht nur auf die Bühne schaut, wird im Publikum so manche alte Bekannte mit ihren typischen Marotten wiedersehen, die sich soziologisch in elf Kategorien unterteilen lassen. Eine Typologie nicht nur der Hamburger Konzertbesucher.
Die Erste-wird-die-Letzte-sein
Sobald das erste Konzertplakat an der Litfaßsäule hängt, rollt sie ihren Schlafsack vor dem Eingang der Konzerthalle aus. Denn sie hat einen Traum: erste Reihe Mitte. Was im Kino die miesesten Plätze sind, sind bei Justin Bieber oder One Direction die besten. Und so campiert sie eine Ewigkeit am Einlass und sortiert Plüschbärchen und Speicherkarten (Die Smartphone-Filmerin). Sobald die Tore sich öffnen, fährt sie die Ellenbogen aus, stürmt den Saal und krallt sich an den Wellenbrecher vor dem Fotograben. Schon bei der Vorband kreischt sie sich warm, bis sie drei Minuten vor dem ersten Song des Headliners völlig dehydriert zusammenbricht und den entscheidenden Rest des Konzertabends in den Armen der Sanitäter verbringt.
Der Pilsener
„Vier Bier und einen Pappträger bitte“, sagt der höfliche Pilsener. Der Unhöfliche brüllt nur „Öih! Ich hab Brand!“ und hebt die Hand mit ausgestreckten Fingern, die andere schlägt mit einem Stapel leerer Becher ungeduldig den Takt der Band auf der Bühne mit. Denn der Pilsener hat immer Durst und verbringt ein Drittel des Konzerts am Getränkestand, ein Drittel stehend auf dem WC, ein Drittel liegend (Die Erste-wird-die-Letzte-sein). Warum er sein Geld für teure Konzertkarten und hastig gezapftes Hasseröder für 3,30 Euro in der Großen Freiheit 36 rauswirft, ist den anderen Fans immer ein Rätsel. Außer bei den drei großen Festivals im Jahr, bei denen die Pilsener unter sich sind: Lotto King Karl im Mai im Stadtpark, Lotto King Karl im September im Stadtpark und Torfrock im Dezember in der Sporthalle. Prost!
Die Gästelistenschnorrerin
„Hallo, ich bin Lisa, ich steh auf der Liste vom Ingo ... na, dem Tourmanager ... doch ... ganz sicher ... unter L ...“ Während die Praktikantin des örtlichen Konzertveranstalters stoisch den Stapel unordentlich sortierter Zettel durchgeht, tippelt die Gästelistenschnorrerin nervös auf den Füßen. Denn heute steht sie nicht wie üblich als „plus Eins" von einem Bekannten/Roadie/Tourmanager auf der Liste, sondern als Lisa. Doch. Ganz sicher. Unter L. Hinter ihr stauen sich Besucher, die an die Abendkasse wollen oder tatsächlich auf der Liste stehen (Der Profi-Kritiker) und haben Gedanken, die in der Videothek ab 18 zu haben sind. Und das nicht in der Erotikabteilung.
Das One-Hit-Wonder
Das One-Hit-Wonder ist eine aussterbende Spezies unter den Konzertgängern, denn es hört noch Radio und kauft noch CD-Singles. Und manchmal ist der Star, dessen aktuellen, auf Dauerrotation laufenden Radiohit man sich gerade bei „Wünsch dir was“ auf Delta Radio erbeten hat, auf Tournee! Und so kauft sich das One-Hit-Wonder eine Karte und wartet an der Bar zwei Stunden lang auf die letzte Zugabe – den aktuellen, auf Dauerrotation laufenden Radio-Singlehit, den manch anderer Konzertbesucher (Der Ultra) hasst, denn natürlich ist der Hit die einzige Ballade an diesem Punkrock-Abend. Das One-Hit-Wonder mag eigentlich keinen Punkrock außer „Wünsch dir was“ von den Toten Hosen, aber am Ende wird ja alles gut.
Der Ultra
Der Ultra kannte die Band schon, als sie noch cool war und noch nicht im ausverkauften Knust vor 300 Möchtegern-Fans (Das One-Hit-Wonder) spielte. „Scheiß Kommerz“ ist sein einziges Status-Update auf Facebook an diesem Abend, und nostalgisch denkt er an die Zeiten zurück, als die Band noch vor drei Besoffenen und der Klofrau im MarX spielte. 2011 war das, und seitdem hat der Ultra wirklich jede limitierte 7-Zoll-Picture-Vinyl-Platte, jedes T-Shirt, ja sogar einen Kapuzenpullover seiner Lieblingsband gekauft, um sie zu „supporten“. Moment: Ex-Lieblingsband. Denn jetzt hat sie sich dem Mainstream angebiedert.
Der Dauerquatscher
Was gibt es Schöneres, als Freunde zu treffen und über die gute alte Zeit zu schwatzen? Und so verabredet man sich zum Konzert der schüchternen Songschreiberin von den Färöer Inseln in der Prinzenbar und redet 90 Minuten lang laut und für alle vernehmlich in einer Tour über Gott, die Welt, Hodenhochstand, wasserdichte Sonnenuhren und ganz sicher nicht über Musik. Da der Dauerquatscher die ganze Zeit die Theke blockiert, aber nur eine Saftschorle und vielleicht einen Virgin Cuba Libre (Cola Light ohne Rum) bestellt, ist er der natürliche Feind des Pilseners (Der Pilsener).
Die Klatschpappe
Bei Eishockeyspielen in der O2 World gibt es zusammenfaltbare Pappen zum Krachmachen, bei Konzerten leider nicht. Und so muss man sich mit Bordmitteln behelfen: rechte Hand, linke Hand, hastig aufeinanderschlagen. Und das bei jedem Lied von Peter Maffay, denn die sind alle toll (Das One-Hit-Wonder). Egal ob „Sonne in der Nacht“ oder „Eiszeit“, wenn „die Meere untergehen“, macht es am meisten Spaß, dieses Leben im Viervierteltakt. Schon jetzt freut sich die Klatschpappe auf das nächste Konzert von „Walzerkönig“ André Rieu.
Die Großzügige
In der Laeiszhalle gibt es günstige, sogenannte Hörplätze mit Sichtbehinderung, aber das ist nichts für die Großzügige, die Saalpläne aller Hamburger Konzerthallen in einem Ordner auf ihrem Schreibtisch hat. Ob Elton John, Anna Netrebko oder James Last, man will sich ja mal was gönnen und das ist natürlich die erste Reihe (Die Erste-wird-die-letzte-sein), 210 Euro pro Ticket hin oder her. Da ist nicht nur ein Sektchen in der Pause drin, sondern auch ein Mitbringsel für den Star des Abends. Und so bekommt Udo Jürgens im Zugabeteil einen Strauß Rosen in Cellophanfolie überreicht und Helene Fischer eine Flasche Rotwein.
Der Pogo-im-Logo
Crowdsurfen? Kinderkram! Headbanging? Langweilig! Unter einer „Wall of Death“, dem gegenseitigen Umrennen wie im Metzelfilm „Braveheart“, geht für den Pogo-im-Logo nichts. Schon beim zweiten Song liegt das T-Shirt im Fotograben, damit jeder die von den genervten Ordnern gespendeten blauen Flecken sehen kann, die stolz präsentiert werden wie Kriegsverletzungen. Die Narbe an der Stirn kündet von Sick Of It All 2011 im Kaiserkeller, die Brandwunde an der Lende vom Bengalo-Spaß bei den Toten Hosen, Rock am Ring 2008. Und wenn nichts mehr geht: Für einen Pogo-Kreisel in Reihe drei braucht man nur einen Mitstreiter. Und dann hoch die Springerstiefel. Wenn er im Eifer des Gefechts irgendwelche Luschen (Das One-Hit-Wonder) auf die Bretter schickt, ist sein Abend perfekt!
Die Smartphone-Filmerin
Lisa (Die Gästelistenschnorrerin) hat es dann doch noch zur Band Triggerfinger ins Docks geschafft. Nun lässt sie zwei Stunden lang knüppelharten belgischen Stonerrock über sich ergehen, flirtet mit dem Musiker der Vorgruppe an der Bar und überredet ihn zu Pärchenfotos, die sie natürlich sofort via Facebook und Instagram teilt. Und dann – endlich! – kommt der Radio-Singlehit „I Follow Rivers“, auf den Lisa so sehnsüchtig gewartet hat (Das One-Hit-Wonder). Der Saal feiert und Lisa filmt jede Sekunde per Smartphone mit. Etwas wackelig zwar und völlig übersteuert, aber die Erinnerung zählt. Und die wird sie auch brauchen, denn der Musiker der Vorgruppe bestellt die vierte Runde Bier und hat Gedanken, die in der Videothek ab 18 zu haben sind. Und das sicher nicht in der Horrorabteilung.
Der Profi-Kritiker
Er ist der gewiefte Logistiker unter den Konzertbesuchern: der Journalist. Der Blogger. Der Kritiker. Er steht immer an dem Punkt mit den – kombiniert – kürzesten Wegen zu Bar (Der Pilsener), Toiletten und Raucherbereich (Der Dauerquatscher), aber doch mit Blick auf die Bühne. Außer im Knust, da gibt es eine Videoleinwand im Foyer. Scheinbar ungerührt macht er sich auf dem Tablet-PC Notizen und kriegt vom Rauchen Bierdurst und vom Bier Lust auf Rauchen. Auf setlist.fm hat er sich die Songliste des letzten Konzerts der Band besorgt, die er nun anstarrt wie das Reh die Flinte. Blöd, wenn man nur den Radio-Singlehit (Das One-Hit-Wonder) kennt. Dabei gefällt ihm das Konzert wirklich gut für null Euro Eintritt (Die Gästelistenschnorrerin), nur leider ist die Band in Blogger-Kreisen so was von nicht angesagt, dass er um einen Verriss nicht herumkommt. Prompt gibt es nach drei Tagen einen Kommentar zum Artikel von „Lisa+1“, was bei Popkritikern einem Shitstorm gleichkommt: „War der Autor überhaupt da?“