Thomas Hengelbrock, Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters, spricht im Interview über Anna Netrebko, laute Nachbarn, Musik als Garten und das Glück, bewusst zu leben.

Hamburg Vital, begeisternd und selbst inspiriert, so erlebten Besucher des letzten NDR-Sinfoniekonzerts am 20. Dezember den Chefdirigenten Thomas Hengelbrock. Im Spätsommer war er wochenlang wegen einer Krankheit, deren Details zu kennen er der Öffentlichkeit gern erspart, weitgehend außer Gefecht gesetzt. Die Saisoneröffnung Anfang September dirigierte er trotzdem.

Seit zwei Jahren verfolgen Konzertgänger staunend, wie sein unorthodoxer Führungsstil immer noch neue Wunder aus dem Orchester hervorlockt. Hengelbrock, 55, ist mit der Schauspielerin Johanna Wokalek verheiratet. Wie war sein Jahr 2013?

Hamburger Abendblatt: Nach der „Opening Night“ Anfang September sahen Sie aus wie der Tod auf Latschen.

Thomas Hengelbrock: Es ging mir zwar nicht besonders, aber die „Opening Night“ abzusagen, daran war nicht zu denken. Ich hab mich da mehr schlecht als recht durchgemogelt. Zugleich war das auch eine ganz tolle Erfahrung. Weil ich zu vielen Proben nicht kommen konnte oder sie verkürzen musste, haben zwei Mitglieder des Orchesters die Proben dirigiert. Das Orchester ist sehr, sehr zusammengewachsen, es war unheimlich solidarisch und hat toll gespielt. Manchmal hat es auch Vorteile, wenn die Führung ein bisschen schwächelt. Dann wird das Gruppengefühl stärker. Aber es war in diesem Jahr sowieso fantastisch mit dem Orchester. So ein Leben, ein solcher Enthusiasmus und eine solche totale Konzentration aufs gemeinsame Musizieren!

Was waren andere Marksteine für Sie in diesem Jahr?

Hengelbrock: Sicherlich die Geburt meines Sohnes, noch im vorigen Jahr. Jetzt fängt er gerade an zu laufen, ein unglaubliches Ereignis für die ganze Familie. Viel Familienzeit verbringen zu können ist für mich das absolut Schönste und Beglückendste, was es gibt.

Darf die Öffentlichkeit mittlerweile erfahren, wie Ihr Sohn heißt?

Hengelbrock: Ich bitte um Verständnis, aber wir sind sehr diskret, was das Private betrifft. Wir hatten unseren Sohn im Sommer auch dabei auf der Tournee, die Johanna Wokalek und ich gemacht haben –„Nachtwache“, ein Projekt mit Lyrik und Chören der Romantik. Da haben wir uns erstmals als Künstlerpaar vorgestellt. Es war herrlich. Ich hatte zuvor noch nie mit Johanna zusammengearbeitet. Plötzlich die eigene Frau als eine so großartige und charismatische Künstlerin neben sich zu haben, die einen ganzen Saal mit einer Geste nimmt – eine fantastische Erfahrung. Aber auch hier in Hamburg ist die Arbeit künstlerisch und menschlich auf eine Weise gewachsen, die ich vorher nicht für möglich gehalten hätte. Es ist eine sehr innige Verbindung.

Entzückt vom NDR-Orchester waren Sie ja schon vom ersten Gastdirigat an. Geht es seitdem immer noch weiter bergauf?

Hengelbrock: Bergauf ist das falsche Bild. Jetzt geht es in die Tiefe. Man kommt beim gemeinsamen Musizieren, auch beim Sprechen über das, was wir mit der Musik ausdrücken wollen, zu tief liegenden Berührungspunkten. Dann kann man gar nicht anders, als auch etwas von sich preiszugeben. Dafür braucht man einen geschützten Raum, wo das nicht missbraucht wird. Ich habe das Gefühl, dass wir hier so einen Raum geschaffen haben, in dem alle sagen können, was sie denken.

Sie möchten nicht sagen, wo genau Sie wohnen, sind aber in diesem Jahr umgezogen innerhalb Hamburgs. Warum?

Hengelbrock: Ja, wir sind raus, in eine ruhige Wohnung.

War Ihnen Eppendorf zu laut?

Hengelbrock: Uns war das Haus zu laut. Sehr hellhörig. Wenn Sie mit einem kleinen Kind leben, dann wollen Sie um elf Uhr abends dann doch mal das Licht ausmachen, schlafen und nicht bis morgens um zwei von allen Seiten die lauten Fernseher und die Partys um sich rum haben. Das ist jetzt besser.

Sie haben in diesem Jahr zu Pfingsten in Baden-Baden erstmals mit Anna Netrebko gearbeitet. Wie war das?

Hengelbrock: Extrem unkompliziert. Wir haben zusammen „Don Giovanni“ gemacht, Erwin Schrott und Charles Castronovo waren auch dabei. Anna ist ein Arbeitstier, sie will proben, sie will arbeiten, sie hört zu. Sie sagt immer: Tell me! Tell me!

Keine Allüren?

Hengelbrock: Ach was! Als Konzertbesucher denkt man ja in so bestimmten Kategorien oder Hierarchien. Letztlich aber, wenn wir Künstler zusammenkommen, geht es nur darum, dass wir möglichst schnell ein Team werden, das die bestmöglichen künstlerischen Ergebnisse erarbeitet. Das kann durch Eitelkeiten blockiert werden, durch solche Sätze wie: „Aber heute sing ich gar nicht aus, weil meine Stimme ist gar nicht und ich warte und spare zum Konzert, und in den Ensembles halte ich mich aber sehr zurück.“ Das ist bei Anna gar nicht so. Aber wir hatten in dem Jahr auch ganz tolle Konzerte mit dem NDR. Zur Eröffnung des SHMF haben wir die Urfassung von Bruckners Vierter gespielt. Das Orchester hat ja oft die normale Fassung gespielt mit Günter Wand – herausragend gut. Aber die Urfassung ist ein ganz anderes Stück. Sie lässt einen ganz anderen Bruckner aufscheinen, von einer größeren Fantasie und Radikalität. Das Orchester war am Anfang skeptisch, weil die Urfassung auch spieltechnisch extrem radikal ist. Aber das war ein ganz tolles Erlebnis.

Jeder kann hören, dass Sie ganz schön viel Umgrab-Arbeit geleistet haben beim Orchester in den letzten Jahren. Vorher hatten die Musiker es bequemer ...

Hengelbrock: Bequemer, das sagt sich so leicht. Hinter all dem, was bequem ist, was nicht lebendig ist, steckt ja nicht gelebtes Leben. Das ist, als wenn in einen lebendigen Garten lauter tote Äste hineinragen. Das ist ganz schlecht und gar nicht bequem, das tut langfristig weh. Ich finde, es muss alles blühen. Wir sollten versuchen so zu spielen, so zu arbeiten und miteinander umzugehen, dass alles blüht, auch wenn man manchmal vielleicht denkt: Verdammt, was kommt denn da plötzlich für eine Schlingpflanze hervor, und die windet sich so merkwürdig? Oder der Trieb da, der greift so rüber in den Rasen, das ist aber komisch? Wir schauen uns das an und sehen, was passiert.

Gab es herausragende Bücher, die Sie in diesem Jahr gelesen haben?

Hengelbrock: Ich lese hauptsächlich Lyrik. Immer wieder Gottfried Benn, der ist schon mein Hero. Mascha Kaleko, Nelly Sachs’ „Fahrt ins Staublose“. Ich bin im Gegensatz zu meiner Frau kein großer Romanleser. Wenn, dann so olle Kamellen wie den „Simplicissimus“. Zurzeit lese ich von Reza Aslan „Zelot: Jesus von Nazareth und seine Zeit“.

Welche Filme bleiben in Erinnerung?

Hengelbrock: Vor zwei Jahren besaß ich weder Radio noch Fernsehen Ich hab jetzt beides, auch bei der GEZ angemeldet, ganz ordentlich. Trotzdem: Filme, da muss ich richtig überlegen. Ich habe vielleicht dreimal Fernsehen geguckt in dem Jahr. Ab und zu Fußball. Sportschau. Champions League. Da wird die Glotze dann angemacht.

Worüber haben Sie sich geärgert ?

Hengelbrock: Ich glaube, ich habe mich überhaupt nicht geärgert.

Ist das ungewöhnlich für Sie?

Hengelbrock: Nein. Durch verschiedene Ereignisse in meinem Leben hat sich eine Erwartungshaltung an das Leben total abgebaut. Ich nehme das Leben, wie es ist. Ich habe so wenig Grund, mich zu ärgern, ich bin einfach (klopft dreimal auf den Tisch) in einer extrem glücklichen Phase. Das war ja in vielen Jahren in meinem Leben auch schon anders. Und dass ich mich so richtig ärgere, da muss echt was passieren.

Gibt es eine Persönlichkeit, die für Sie das Jahr überstrahlt?

Hengelbrock: Nelson Mandela , aber den fand ich schon früher unheimlich eindrucksvoll. Es ist sehr tröstlich, dass eine einzelne Person so eine Strahlkraft entwickeln kann, wenn sie davon beseelt ist, den Menschen Frieden zu geben, vergleichbar vielleicht mit Jesus, Gandhi oder Martin Luther King. Wir lassen uns ja sehr leicht durch Negativität stimulieren. Sie haben einen Zahn, der wehtut. Aber dass Sie noch 31 gesunde Zähne haben, das interessiert Sie nicht. Irgendwas läuft schief, eine Beziehung sitzt nicht richtig im Lot, etwas stimmt im Beruf oder mit den Finanzen nicht – so etwas bekommt im Gesamtkontext des eigenen Lebens schnell ein viel zu großes Gewicht.

Gab es für Sie auch Entdeckungen?

Hengelbrock: Jeder Tag ist für mich eine Entdeckung. Jeder Tag. Ich bin ein Anhänger der alten barocken Idee, dass uns das Leben gegeben ist wie ein Kartenspiel, ein Memory-Spiel. Alle Dinge sind schon in der Welt. Unsere Aufgabe besteht darin, die Karten umzudrehen und das Vorhandene zu finden. Nicht zu erfinden, sondern zu finden. Diese Idee vom Leben finde ich viel schöner, als ständig immer etwas erfinden zu müssen; auch sich selbst muss man nicht immer neu erfinden. Wenn Sie morgens aufwachen, ist ein neuer Tag, Sie drehen langsam, Stunde für Stunde, diese Karte um. Am Ende sitze ich dann oft mit meiner Frau zusammen und sage: Mensch, was war das für ein toller Tag, und weißt du noch? Entdecken ist für mich kein punktuelles, einzelnes Ereignis. Es ist meine Lebensphilosophie.

Das klingt ziemlich wunschlos.

Hengelbrock: Ja.

Haben Sie keinen Herzenswunsch fürs nächste Jahr?

Hengelbrock: Na ja, das, was sich jeder Mensch wünscht: Gesundheit für die Liebsten, für sich selber. Und dass wir von Not, Krankheit, Krieg verschont bleiben, im privaten wie im äußeren Leben. Wie Beethoven unter seine Missa solemnis geschrieben hat: Bitte um inneren und äußeren Frieden. Im Moment haben wir diesen Frieden. Möge es lange so bleiben.