Ausmaß der Verschleierung nimmt weiter zu. Das Bauwerk entfaltet mehr und mehr seinen Reiz. Teil 4 der Elbphilharmonie-Serie im Abendblatt.
Anfang 2009 kehren die Abgeordneten langsam aus den Weihnachtsferien zurück. Die 38 Seiten starke Drucksache über den Nachtrag 4, die der Senat der Bürgerschaft kurz vor Weihnachten unter den Tannenbaum gelegt hatte, haben die meisten noch gar nicht registriert, geschweige denn gelesen. Sie wissen noch nicht, in welchem Umfang sie hinters Licht geführt werden. Aber Hartmut Wegener hat sie gelesen, Und er ist erbost.
Am 6. Januar nimmt er ein Blatt Papier und einen Füller zur Hand und schreibt an Ole von Beust – „persönlich“. Auf einer DIN-A4-Seite beklagt er sich, dass in der Senatsdrucksache ein Zusammenhang hergestellt werde zwischen dem „für die Stadt sehr ungünstigen Ergebnis“ des Nachtrags 4 und seinen Verhandlungen mit Hochtief. Er bittet um Korrektur der „irreführenden Passagen“. Das bleibt bis heute sein Credo: Mit mir wäre das nicht passiert!
Es gibt zwar kaum Beteiligte, die diese Haltung teilen. Aber Wegener liegt mit der Einschätzung richtig, dass der Nachtrag 4 für die Stadt eine Katastrophe ist. Schon bald wird der Streit wieder von vorn beginnen, er wird sich vier Jahre lang hochschaukeln und eskalieren, bis das Projekt Elbphilharmonie 2012 nur durch eine glückliche Fügung des Schicksals kurz vor dem Aus gerettet wird.
Anfang des Jahres befasst sich die Bürgerschaft mit der neuen Lage. Am 23. Januar 2009 preist Karin von Welck vor dem Haushaltsausschuss den Nachtrag 4 als großen Wurf: „Alle heutigen Projektverantwortlichen haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, und daher wurde das Projekt in seiner Struktur“ – das betont sie noch einmal – „in seiner Struktur neu aufgestellt.“ Das ist eine merkwürdige Sichtweise, denn an den Projektstrukturen hat sich gar nichts geändert: Unfertige Planung, unvollständiges Bausoll, nicht gedeckelte Budgets, komplizierte Aufteilung der Planung zwischen Baufirma und Architekt – alles noch da.
Doch das Ausmaß der Verschleierung nimmt noch zu. Dabei geht es um die 48,2 Millionen Euro, die Hochtief für Projektänderungen erhalten hatte. Die Forderungen waren im Herbst 2008 nie detailliert geprüft worden. Als die SPD nun Anfang 2009 beantragt, dass alle Akten der Bürgerschaft übergeben werden sollen, bekommt man bei der ReGe kalte Füße und fordert die Architekten auf, nachträglich detaillierte Begründungen für jede PÄM zu erstellen.
Damit beauftragt wird der Ingenieur Birger Bannier. Er ist erstaunt, liefert aber die Unterlagen. Etwa 60Ordner, voller Gutachten und juristischer Stellungnahmen, alles undatiert. Warum kein aktuelles Datum? „Das war vonseiten der ReGe nicht gewünscht“, so Bannier. Denn die Akten sollen ja den Eindruck erwecken, sie seien im Herbst 2008 entstanden.
ReGe-Chef Heribert Leutner bestätigt zwar den Vorgang an sich, weist aber jeden Manipulationsvorwurf zurück. In den hektischen Verhandlungen zum Nachtrag 4 sei man einfach nicht mehr dazu gekommen, die Akten zu pflegen, daher sei das nachträglich geschehen.
All das wissen die Abgeordneten nicht, als die Bürgerschaft am 4. März 2009 zusammentritt, um der Kostenexplosion ihren Segen zu geben – oder eben nicht. Denn die Opposition will die Verdreifachung der Kosten nicht mittragen. In letzter Minute beantragt die SPD, ein unabhängiges Schiedsgericht mit der Klärung aller strittigen Kostenfragen zu beauftragen. So sei es in den Verträgen mit Hochtief vereinbart. Diese sähen ausdrücklich nicht vor, dass die Stadt bei einem Baukonflikt „nach Gutdünken des Bürgermeisters“ 200 Millionen Euro ohne Prüfung nachzahlt, so Finanzexperte Peter Tschentscher. Von Welck bügelt das ab: Sie stehe „konsterniert“ vor dem SPD-Antrag, denn so ein Schiedsgericht sei „rechtlich nicht gangbar“. Letztlich trägt nur das Regierungsbündnis aus CDU und GAL den Nachtrag 4 mit, SPD und Linke stimmen dagegen.
Ironie am Rande: Drei Jahre später wird ein SPD-Senat seinerseits mit dem Versuch scheitern, Hochtief in ein Schiedsgericht zu zwingen. Stattdessen muss er selbst gut 200 Millionen Euro ungeprüft oben drauflegen.
Im Frühjahr 2009, der teure Nachtrag 4 ist gerade vom Parlament abgesegnet, nimmt Hochtief den Papierkrieg mit der Stadt wieder auf. Ausweislich einer internen Statistik der ReGe gehen zwischen dem 6.April 2009 und dem 31.Dezember 2012 sage und schreibe 126.146 Seiten auf dem einzigen Fax der Gesellschaft ein.
Der neue Aufsichtsratschef der Bau KG, Johann C. Lindenberg, erkennt schnell, dass die ReGe „completely undermanaged“ ist und dass er die „Truppen massiv verstärken“ muss, um die „täglichen Angriffe von Hochtief“ abzuwehren. Mit Anglizismen und martialischem Vokabular nimmt sich der ehemalige Unilever-Chef der Aufgabe an. Die ReGe wird inklusive externer Helfer nach und nach auf rund 50 Mitarbeiter aufgestockt. Hinzu kommt ein kaum überschaubarer Apparat von Juristen und Beratern. So sorgt die Stadt selbst für eine enorme Kostensteigerung: Am Ende wird allein der Einsatz der ReGe für die Elbphilharmonie 67 Millionen Euro kosten.
2009 wird von einem verbissenen Stellungskrieg dominiert: Mehrfach trifft Lindenberg den Hochtief-Vorstand Henner Mahlstedt und fordert, zügiger zu bauen – in zwei Schichten und auch sonnabends. Vergeblich. Stattdessen kommen weiter Faxe mit Behinderungsanzeigen und neuen Forderungen: mal nur eine Seite pro Tag, mal zehn, mal 100. Immerhin beantwortet die ReGe-Truppe nunmehr jedes Schreiben detailliert.
Abseits dieser beinharten Auseinandersetzungen entfaltet das Bauwerk mehr und mehr seinen Reiz. Am 24. September 2009 unternimmt das NDR Sinfonieorchester mit seinem kommenden Chefdirigenten einen Betriebsausflug auf die Baustelle: Thomas Hengelbrock, groß, blond, charismatisch, ein Energiebündel. 2011 wird er seine erste Saison in der Laeiszhalle unter das Motto stellen: „Anything goes – alles ist möglich.“ Die Inspiration dazu gibt auch der atemberaubende Blick von seinem künftigen Arbeitsplatz über die Elbe. Als er und seine Musiker das an diesem Septembertag erstmals genießen, ist da „totale Euphorie“, so Hengelbrock. „Als hätte man allen Kokain gegeben.“
Die Entziehungskur folgt prompt in Gestalt eines Sachstandsberichts des Senats: Nicht einmal ein Jahr nach Abschluss von Nachtrag 4 liegen schon wieder 40 Baubehinderungsanzeigen von Hochtief vor. Die Kosten für vier Budgets sind bereits gesprengt, unter anderem wird die „Weiße Haut“ jetzt mit 15,3 statt mit 8,5 Millionen Euro veranschlagt. Der Eröffnungstermin Ende 2011 stehe aber nicht infrage. Wörtlich heißt es: „Geplant ist ein höchstkarätig besetztes Festival, bei dem sowohl Hamburger Künstler als auch Musiker mit Weltrenommee auftreten werden.“ Man könnte das so verstehen, dass Künstler aus Hamburg per se kein Weltrenommee haben.
Einzig gute Nachricht: Am 16. Dezember wird das erste Teil der spektakulären Glasfassade eingesetzt. „Jede der 1089 Scheiben ist ein Unikat“, teilt Hochtief mit. Damit erhält die Elbphilharmonie nach und nach ihr charakteristisches Aussehen. Die Eskalation der Lage in 2010 wird dadurch jedoch nicht verhindert.
Am 12. Januar unternehmen Stadt, Planer und Baufirma eine Begehung der Baustelle. Gemeinsam halten sie danach in einem Protokoll fest, dass der Bau acht bis zehn Wochen in Verzug ist. So ist statt des 26. erst das 20. Obergeschoss betoniert. Doch noch am selben Tag setzt Hochtief-Projektleiter Dirk Rehaag ein Schreiben an die ReGe auf, in dem von Gemeinsamkeit keine Rede mehr ist, im Gegenteil: „Fest steht..., dass die für Ende 2011 vorgesehene Fertigstellung nicht realisiert werden kann.“ Damit rechne man für Ende 2012.
ReGe und Kulturbehörde empfinden das Schreiben als pure Drohung. Offensichtlich wolle Hochtief seine Forderungen – angemeldet sind zu dem Zeitpunkt Mehrkosten von 22,4 Millionen Euro – auf diesem Wege durchsetzen. Für den 18. Januar werden die Kultur- und Finanzexperten der Fraktionen in die Kulturbehörde gebeten, um sie über die Lage zu informieren. Zuvor müssen sie eine Verschwiegenheitserklärung abgeben, einige Abgeordnete sind empört darüber. Noch wütender werden sie, als sie später von Rehaags Brief erfahren – der wird ihnen bei dem Treffen nämlich vorenthalten. Doch die Geschichte kommt heraus: „Hochtief warnt: Elbphilharmonie noch ein Jahr später fertig“, lautet eine Schlagzeile.
Es beginnt ein mehrtägiges Schwarzer-Peter-Spiel. Auch ein gewisser Olaf Scholz meldet sich nun zu Wort. Der ist neun Jahre nach seinem Rückzug aus der Hamburger Politik seit Kurzem wieder SPD-Landeschef und meint: „Man muss die gewaltige Kostensteigerung als das bezeichnen, was es ist: ein Skandal.“ GAL-Fraktionschef Jens Kerstan, ein führender Vertreter der schwarz-grünen Regierung, nennt Hochtief gar eine „bösartige Heuschrecke“, der er „keine Silbe“ glaube.
Jetzt platzt dem Baukonzern der Kragen. Obwohl ihm laut Vertrag eine eigene Öffentlichkeitsarbeit untersagt ist – intern „Maulkorbklausel“ genannt –, lädt Hochtief zu einer Pressekonferenz ins Baubüro am Sandtorkai. In Blickweite zur Elbphilharmonie hat Thomas Möller seinen großen Auftritt. Mit vor Pathos dröhnender Stimme weist er die Vorwürfe zurück: „Ich bin der Konzern. Ich bin keine Heuschrecke, meine Großmutter war schon Bauzeichnerin bei Hochtief. Das ist ein supergutes Unternehmen!“
Mitunter faltet Möller die Hände zum Himmel und jammert: „Ohne Pläne können wir nicht bauen.“ Und die Pläne schulde nun mal der Bauherr, die Stadt, beziehungsweise ihr Architekt. Aber der ändere nur ständig Pläne.
Möllers konkretestes Beispiel ist die Belüftung im Großen Konzertsaal. Statt einer Billigvariante nach „Kanalbauart“ sei jetzt plötzlich eine Luxusvariante nach „Schiffbauart“ geplant. Dadurch vervierfache sich auch das Gewicht eines einzelnen Lüftungskastens von 16 auf 64 Kilogramm – was dann auch wieder Auswirkungen auf die Statik und die Montage habe, die wesentlich länger dauere. Zum Beweis hat Möller die beiden unterschiedlichen Lüftungsabschnitte mitgebracht. Hochtief-Sprecher Bernd Pütter bringt es auf den Punkt: „Die Änderungen muss der bezahlen, der sie zu vertreten hat.“
Aber wer ist das? ReGe und Hochtief beginnen zwar damit, das Punkt für Punkt abzuarbeiten. Intern wird das „Nachtrag-5-Prozess“ genannt, nach außen gilt „Nachtrag“ dagegen als Unwort. Doch auch rund 150 Sitzungen bringen kaum Annäherung. Stattdessen verklagt die Stadt Hochtief im Frühjahr auf Herausgabe eines Terminplans. Ziel ist es, die Verantwortung für den Bauverzug zu klären – und damit die Frage, wer das zu bezahlen hat.
Auch die Bürgerschaft möchte darauf Antworten haben und beschließt am 5. Mai auf SPD-Antrag, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Die Entscheidung fällt einstimmig, denn auch CDU und GAL wollen sich nicht vorwerfen lassen, an Aufklärung kein Interesse zu haben.
Zeitgleich listen die Generalplaner Herzog & de Meuron in einer fingerdicken Dokumentation Baumängel auf, für die sie Hochtief verantwortlich machen. Historische Backsteinfassade teilweise ruiniert, minderwertiger Beton, schlampig verbauter Stahl, die Federung des Großen Saals mangelhaft – insgesamt 4494 Mängel führen die qualitätsbewussten Schweizer an. Die erschreckend hohe Zahl kommt allerdings auch dadurch zustande, dass zum Beispiel 100 Beschädigungen an der Fassade auch als 100 Mängel gezählt werden.
Stadt, Hochtief, Architekten, Regierung, Parlament – Mitte Mai 2010 kämpft jeder gegen jeden. Und mitten in dieser vergifteten Atmosphäre soll gemeinsam gefeiert werden: Mehr als drei Jahre nach der Grundsteinlegung ist am 28. Mai Richtfest.
Nachdem der Bürgermeister am Tag zuvor einen dramatischen Sparkurs ausgerufen hat, ist die Stimmung an der Baustelle aufgeheizt. Die mehr als 5000 Besucher werden von Demonstranten empfangen, die das „Denkmal für die Reichen“ besingen. Die geladenen Gäste werden mit selbst gedruckten 350-Millionen-Euro-Scheinen beworfen, die Kultursenatorin hämisch mit „Karin, Karin“-Sprechchören begrüßt.
In 37 Meter Höhe drängen sich auf der Plaza die Gäste. Mittendrin Generalintendant und Immer-noch-nicht-Hausherr Christoph Lieben-Seutter. Seine Haltung: „Schauen Sie nach Paris, London oder Sydney: Ohne ein bisschen Größenwahn entstehen die besonderen Wahrzeichen nicht.“
Wenn es stimmt, dass Scherben Glück bringen, hat dieser Tag doch auch etwas langfristig Gutes. Kurz vor 12.30 Uhr ist der große Augenblick für den Polier Herbert Hesse. „Der Richtkranz ruft ins Land hinaus/Der Bauherr ruft zum frohen Schmaus.“ Und dann fällt viel zu früh das Schnapsglas herunter. Zweitpolier Werner Rininsland hilft mit einem leeren Weinglas aus. Da geht mehr rein, wie praktisch. Man könnte jetzt glatt ans Schöntrinken der vielen Probleme denken. Der sprichwörtliche Scherbenhaufen liegt im Sommer vor dem Rathaus: Am 18.Juli kündigt ein amtsmüder Ole von Beust seinen Rücktritt an. Die biblische Erkenntnis „Alles hat seine Zeit” gelte auch für Politiker, sagt er mit stockender Stimme. Am Ende seiner kurzen Erklärung verabschiedet er sich mit einem „Tschüs.” Dann geht er, der Mann, dessen Name ewig mit der Elbphilharmonie verbunden bleiben wird.
Auch Karin von Welck, Senatskanzlei-Chef Volkmar Schön und Wirtschaftssenator Axel Gedaschko reichen ihren Abschied ein. Damit sind alle Spitzenpolitiker, die je Verantwortung für das Jahrhundertprojekt trugen, nicht mehr im Amt. Sie alle beteuern, dass ihr Rücktritt nichts damit zu tun habe, aber sie hinterlassen eine gigantische Problembaustelle.
Laut Sachstandsbericht des Senats von August hat Hochtief mittlerweile Mehrkosten in Höhe von 25,7 Millionen Euro angemeldet. 107 Behinderungsanzeigen liegen vor, die Budgets sind um 9,5 Millionen Euro überschritten, und der Senat räumt ein, er gehe davon aus, dass der Fertigstellungstermin 30. November 2011 „nicht eingehalten werden wird”. Bonjour Tristesse. Ausbaden muss das Christoph Ahlhaus (CDU), den die Bürgerschaft am 25. August zum Ersten Bürgermeister wählt.
An seiner Seite ein alter Bekannter: Reinhard Stuth, 2009 als Staatsrat entlassen, kehrt als Chef in die Kulturbehörde zurück. Seine ersten Sätze zur Elbphilharmonie: „Wir hatten eine Phase, wo es wirklich viele Schwierigkeiten gab.” Aber „seit Nachtrag 4 im November 2008 läuft es erheblich besser.” Das hat mit der Realität gar nichts zu tun.
Nachdem er die gesamte Kulturszene mit Sparankündigung in Aufruhr versetzt hat, unter anderem der Schließung des Altonaer Museums, sieht der ungeschickt und glücklos agierende Ahlhaus-Senat bereits seinem Ende entgegen: Am 28. November 2010 lässt die GAL die schwarz-grüne Koalition platzen, im Februar sollen Neuwahlen stattfinden.
Auch der Untersuchungsausschuss muss daher seine Ermittlungen einstellen und legt am 21.Januar nur einen hektisch verfassten Sachstandsbericht vor. Ein Fakt sticht heraus: Die Elbphilharmonie kostet die Stadt nicht 323 Millionen Euro, wie vom Senat behauptet, sondern mindestens 351 Millionen – denn 28 Millionen Euro Vorlaufkosten wurden stets nicht mit angegeben.
Zum Jahreswechsel 2010/2011 ist die Lage ernüchternd: Der Bau liegt Monate hinter dem Zeitplan, der Streit ist in eine öffentliche Schlammschlacht ausgeartet, und die politisch Verantwortlichen sind nicht mehr im Amt.
Am 20. Februar 2011 beginnt eine neue politische Zeitrechnung: Bei der Bürgerschaftswahl landet die SPD mit Olaf Scholz an der Spitze einen Erdrutschsieg, die CDU wird nach fast einem Jahrzehnt an der Regierung auf 21,9 Prozent halbiert. Absolute Mehrheit, Landeschef seiner Partei und stellvertretender SPD-Bundesvorsitzender – Scholz vereint eine enorme Machtfülle auf sich. Und er ist gewillt, diese zu nutzen. War von Beust nach seiner Wahl erst mal „dösen“ gegangen, stürzt sich Scholz in die Arbeit, studiert Akten. Auch die Elbphilharmonie-Verträge schaut er sich an. Ende 2012 wird nur einer über das Schicksal des Konzerthauses entscheiden: Olaf Scholz.
Eng an seiner Seite steht dabei die neue Kultursenatorin Barbara Kissler. Eine Rheinländerin aus Berlin, dort war die parteilose Politikerin seit 2009 Klaus Wowereits Senatskanzlei-Chefin. Ebenso gebildet und kulturbeflissen wie ihre Vorgängerin, bringt Kisseler ein weiteres wichtiges Attribut mit: Sie scheut weder Konflikte noch klare Ansagen. Und denkt gar nicht daran, sich bei der Elbphilharmonie herauszuhalten, wie der Aufsichtsrat der Bau KG es ihr empfiehlt. „Ich habe die politische Verantwortung”, lautet ihr Credo. „Und daher möchte ich über das Projekt nicht nur informiert werden, sondern es auch aktiv begleiten.” Ihr wichtigster Mitarbeiter wird Jochen Margedant, der behördeninterne Projektleiter. Über den Juristen sagt Kisseler: „Er ist für mich, was Eckermann für Goethe war.”
Mit dem Amtsantritt von Scholz und Kisseler beginnt der vorerst letzte letzte Akt im Drama um die Elbphilharmonie. Es wird ein furioses Finale, eine beispiellose Auseinandersetzung um Hunderte von Millionen Euro.
Im Frühjahr besucht Kisseler erstmals „ihre” Baustelle. Es ist ein nasser, kalter und windiger Vormittag. Die Baustelle ist fast menschenleer. Oben auf der Plaza bekommt die Senatorin eine Ahnung davon, wie schwierig und gleichzeitig großartig dieses Bauwerk ist. Wenn sie Besucher dort hinaufführt, beobachtet sie immer wieder das gleiche: „Selbst bei den schärfsten Kritikern vollzieht sich eine fast biblische Wandlung – vom Saulus zum Paulus.”
Die neue Mannschaft steht also, die Probleme sind die altbekannten. Während die Bürgerschaft im Frühjahr 2011 erneut einen Untersuchungsausschuss einsetzt, tauchen Gerüchte auf, dass Hochtief 100 Millionen Euro mehr will – ein Vielfaches der offiziell vorliegenden Forderungen. Zum x-ten Mal suchen Lindenberg und Hochtief-Chef Mahlstedt eine Lösung. Am 19. April einigen sie sich auf eine Neuordnung, die auch ein Schiedsverfahren beinhaltet.
Doch schon kurz darauf will der Baukonzern davon nichts mehr wissen: Wenn die Stadt glaube, Hochtief baue erst zu Ende, um sich anschließend in einer juristischen Auseinandersetzung das Geld zu erstreiten, habe sie sich geirrt. Lindenberg kontert: „Und Sie glauben doch nicht, dass wir noch einmal einen pauschalen Nachtrag abschließen? Wir gehen vor Gericht, und da werden Sie unterliegen!”
Die gleichen Differenzen tragen parallel auch ReGe-Chef Leutner und der Hamburger Hochtief-Leiter Thomas Möller aus. Der erzählt dazu die Anekdote, wie er die Vorstellungen der Stadt in der Realität getestet hat, morgens beim Bäcker. Nach dem Brötchenkauf habe er zu der Verkäuferin gesagt: „Wie viel Geld Sie dafür bekommen, meine Liebe, das lassen wir von einem Schiedsgericht klären.“ Die Dame habe sich verschaukelt gefühlt, so Möller.
Also steuert alles auf den großen Knall zu. Anfang Juni teilt Hochtief der Stadt mit, dass der derzeitige Verzug von 15 Monaten noch zunehmen und das Gebäude wohl erst im April 2014 fertig werde – zweieinhalb Jahre später als vereinbart. Die Stadt bereitet sich ihrerseits schon auf eine Trennung vor: Am 29. Juni präsentiert die ReGe dem Aufsichtsrat der Bau KG eine 22-seitige Vorlage zum Kündigungsszenario. Darin finden sich juristische Einschätzungen und eine Grobschätzung der Zusatzkosten für den Fall, dass die Stadt ohne Hochtief weiterbaut.
Kurz darauf inspiziert Bundespräsident Christian Wulff die Baustelle. Kisseler stellt ihm die Elbphilharmonie mit ernüchternden Worten vor: „Sie ist uns lieb und teuer. Die Reihenfolge ist im Moment beliebig.“
Die Kultursenatorin schaltet sich nun aktiv ein und bittet die Hochtief-Chefs Mahlstedt und Möller zum Gespräch in die Behörde. Es wird vereinbart, dass der Baukonzern Vorschläge zur Lösung der Probleme vorlegen soll.
Am 13. Juli schickt Mahlstedt Kisseler das geforderte Papier. In seinen „Handlungsoptionen” erwähnt er seinerseits erstmals eine Trennung. Ein „Weiter so" komme für Hochtief nicht in Frage, denn das Konfliktpotenzial „wird weiter rasant wachsen”. Stattdessen schlägt der Vorstandschef eine Neuordnung vor: Hochtief übernimmt die gesamte weitere Planung von den Architekten, denen nur noch eine künstlerische Oberleitung eingeräumt werde. Zu einer Neuordnung gehöre natürlich „auch die Vereinbarung eines neuen Preises und eines verbindlichen Termins”, so Mahlstedt. Für beides würde Hochtief dann auch die Verantwortung übernehmen.
Diese Vorschläge liegen schon recht nah an dem, was man eineinhalb Jahre später tatsächlich vereinbaren wird. Die Tür für eine Einigung steht also offen, aber niemand traut sich hindurch. Im Gegenteil, sie wird zugeschlagen.
Die inoffizielle Antwort der Stadt gibt Kisseler am 23. August in der Bürgerschaft: „Keine Spielchen mehr, Hochtief!“, droht sie dem Baukonzern. Was sie damit vor allem meint, wird kurz darauf klar: Hochtief zieht nun seinen Joker – Baustillstand. Der ist dem Konzern laut Vertrag zwar selbst im Streitfall untersagt. Doch wenn er nachweisen könnte, dass Gefahr für Leib und Leben besteht, würde dieser Passus nicht ziehen. Und so entsteht der wohl erbittertste Einzelkonflikt in diesem Projekt – der Kampf ums Saaldach.
Um den zu verstehen, muss man sich die Dimensionen verdeutlichen. Das Dach über dem Großen Saal ist eine zeltartige Konstruktion ohne jegliche Stützen und allein schon 2000 Tonnen schwer. Tragen muss es zudem die rund 8000 Tonnen schwere Haustechnik, vor allem riesige Lüftungskanäle. Im Interesse der Besucher und Musiker, die einmal darunter Platz nehmen werden, sollte man sich an dieser Stelle lieber nicht verrechnen. Doch nach Meinung von Hochtief ist genau das geschehen, oder zumindest nicht auszuschließen. Daher weigert sich der Konzern beharrlich, das noch abgestützte Dach endgültig auf das Gebäude abzusenken.
Im Sommer 2011 schwelt dieser Konflikt schon seit zwei Jahren: Hochtief hatte schon gegen die ersten Berechnungen des Schweizer Statikers Heinrich Schnetzer Bedenken angemeldet. In der Folge entsteht Gutachten um Gutachten, immer mit den gleichen Aussagen: Hochtief hat Bedenken – Architekten, ReGe und ein von der Baubehörde beauftragter Prüfstatiker halten das Dach für sicher. Sie weigern sich aber, Hochtief ihre Berechnungen zu zeigen, aus Sorge, der Konzern wolle das nur zu seinen Zwecken nutzen.
Es kommt, wie es kommen muss: Die Geschichte eskaliert endgültig. Am 20. September 2011 teilt der Baukonzern der Stadt mit, dass man die Arbeiten am Saaldach Mitte Oktober einstellen werde, da es bei dem Absenken zu einer Überlastung einzelner Bauteile kommen könnte. Eine „Gefahr für Leib und Leben” könne nicht ausgeschlossen werden. Am 30. September teilt der Konzern zudem mit, dass er seinen Teil der Planung einstellen werde. Der Bau steht jetzt still.
Ende Oktober erfährt auch die Öffentlichkeit, wie dramatisch es um Hamburgs Vorzeigeprojekt steht. Der erste Sachstandsbericht des neuen SPD-Senats liest sich wie eine Kapitulation: „Konflikte, die über das übliche Maß hinausgehen”, würden das Projekt prägen. Von 9000 entdeckten Mängeln ist die Rede, 5700 davon noch nicht beseitigt.
Aufgezählt werden vier Knackpunkte: Der Streit um die Dach-Sicherheit, zweitens die Frage, wer nun wem welche Pläne schulde. Drittens ein absurder Streit um die Tube, jene Röhre, durch die die Besucher mit der Rolltreppe auf die Plaza gelangen. Die Architekten wollen die 80 Meter lange, gebogene Röhre unbedingt fugenlos mit einem aufwendigen Glaspaillettenputz versehen. Hochtief hatte davor gewarnt, es dann doch versucht. Das Ergebnis sind Hunderte Risse im Putz und die Frage: Wer ist daran nun wieder schuld? Die Planer? Oder die Baufirma? Viertens geht es um die Schäden an der historischen Backsteinfassade.
Auch die Kostenentwicklung ist desolat: Hochtief hat allein wegen ständiger Änderungen des Bausolls Mehrkosten von 58 Millionen Euro anmeldet. Wenn der Konzern auch noch die Kosten aus der Bauzeitverlängerung geltend mache, werde die Forderung sicher die 100-Millionen-Grenze überschreiten, heißt es in der Drucksache.
Obwohl der Senat offen von einem „Dilemma“ spricht, verschweigt er doch einiges. Erstens die Tatsache, dass die ReGe bereits eine Kündigung durchspielt. Gezielt werden schon die Subunternehmer des Baukonzerns angesprochen, ob sie nach einer Kündigung direkt für die Stadt arbeiten würden. Das geschieht so offen, dass es in der Branche registriert wird – so will die Stadt den Druck auf Hochtief erhöhen.
Zweitens geht aus dem Senatsbericht nicht hervor, dass der Bau seit Monaten praktisch still steht. Als das Abendblatt am 4.November über den „Baustillstand an der Elbphilharmonie” berichtet, ist die Aufregung groß.
Ausgerechnet in dieser Phase muss Pierre de Meuron am 17. November im neuen Untersuchungsausschuss aussagen. Zur aktuellen Lage sagt er: „Derzeit stagnieren Planung und Bau. Es wird mehr geschrieben – damit meine ich nicht in der Presse, sondern projektintern – als gebaut. Annähernd 20.000 Schreiben, allein nach Abschluss des Nachtrags 4, belegen dies deutlich.”
Für die Elbphilharmonie ist es fünf vor zwölf: Laut dem Nachtrag 4 hätte das Konzerthaus im November fertiggestellt sein sollen. Stattdessen korrigiert Hochtief in einem Schreiben den Fertigstellungstermin abermals nach hinten, von April auf November 2014. Im Gegenzug fordert die Stadt nun 40,6Millionen Euro Strafe von Hochtief, weil der Konzern Termine nicht eingehalten habe – und dafür darf sie laut Vertrag pro Tag Verzögerung 200.000 Euro in Rechnung stellen.
Die Ausgangslage für 2012 ist so desaströs wie nie zuvor: Der Bau steht still, und die Verantwortlichen kommunizieren nur noch über böse Briefe miteinander. Eine Seite muss sich bewegen – oder es wird zur Trennung kommen. Das Jahr der Entscheidung, so oder so.
Wie schon in der Anfangsphase des Projekts vor mehr als zehn Jahren wird auch 2012 von zwei Geschichten geprägt, die zeitweise parallel verlaufen. In der ersten, der offiziellen, haben die Hardliner das Wort. Am 16. Januar 2012 droht die ReGe Hochtief schriftlich mit dem Entzug der Planung für die Gebäudetechnik, wenn diese nicht bis zum 28. Februar vorliege. Wörtlich heißt es: „Es ist uns nicht zuzumuten, noch weiter abzuwarten, ohne dass Sie auch nur konkrete Termine benennen.” Das erste von diversen Ultimaten.
Die Antwort kommt am 24. Januar von Rainer Eichholz, dem Nachfolger von Henner Mahlstedt als Vorstandschef des Hochtief-Europageschäfts. Er schreibt an Kisseler und bietet Verhandlungen an. Ihm dränge sich aber der Eindruck auf, „dass Sie an einer solchen Lösung kein Interesse (mehr) haben“. Erbost zeigt er sich, dass Senatsvertreter im Ausschuss „massive Vorwürfe und falsche Tatsachenbehauptungen” erhoben hätten. Hochtief werde nun seinerseits klagen, um feststellen zu lassen, dass die Stadt nicht berechtigt sei, eine Vertragsstrafe zu fordern.
Eine gute Woche später hat Ole von Beust noch einmal einen großen Auftritt. Am 2. Februar um Punkt 16 Uhr betritt der 56-Jährige das Rathaus, um vor dem Untersuchungsausschuss auszusagen. Im Blitzlichtgewitter vor dem Großen Festsaal nimmt er seinen Kritikern sofort den Wind aus den Segeln: „Ich übernehme die politische Verantwortung für alles, was in meine Zeit als Bürgermeister fällt.“ Ob er sich schuldig fühle angesichts des Desaster? Nein, sagt Beust: „Schuld setzt Vorsatz voraus, und den schließe ich aus.“
Damit ist eigentlich alles gesagt. Die Vernehmung plätschert vor sich hin, Beust zeigt wenig Neigung, allzu sehr in Details einzusteigen. „Ich habe manchmal das Phänomen, dass ich mich schon nach 14 Tagen nicht mehr an Termine erinnere.“ Es wird bissig. Ole Thorben Buschhüter (SPD) fragt, welche Entscheidungen nicht er, sondern andere getroffen hätten. „Wie meinen Sie das?“ Welche grundlegenden Entscheidungen nicht der Bürgermeister getroffen habe, wiederholt der Vorsitzende. „Was ist denn grundlegend?“, fragt Beust. Darauf Buschhüter: „Was meinen Sie denn?“ Von Beust: „Wir machen doch kein Quiz hier!“
In der Tat ist das kein Spiel, sondern ein unerbittliches Ringen – und das geht abseits der Scheinwerfer weiter. Das Landgericht beschäftigt sich mit der Schadenersatzklage der Stadt, Hochtief und die Behörden streiten um die Saaldach-Sicherheit, und die ReGe denkt über Kündigung nach.
Es folgt ein Stakkato an Gipfeltreffen, Leutner und Eichholz unternehmen einen weiteren Einigungsversuch, vereinbaren im März sogar einige Eckpunkte. Doch nichts hat Bestand, im Ergebnis werden wieder böse Briefe geschrieben. Am 12. April setzt die Stadt ein zweites Ultimatum und droht erstmals mit Kündigung – für den Fall, dass das Dach nicht bis Ende Mai abgesenkt wird. Hochtief ringt sich im allerletzten Moment nur zu der Zusage durch, den Weiterbau des Saaldachs „vorzubereiten”. Eigentlich müsste Hamburg den Konzern jetzt rauswerfen. Aber weil einige weitere Eckpunkte vereinbart werden, zeigt sich Kisseler „vorsichtig optimistisch” und betont: „Der Ball liegt nun im Feld von Hochtief.”
Doch offensichtlich sind sich beide Seiten immer noch nicht einig, welches Spiel eigentlich gespielt wird. Am 13. Juni um 18.46Uhr geht im Hause der Senatorin ein Fax von Hochtief-Vorstand Rainer Eichholz ein, in dem er das zuvor Vereinbarte wieder in Frage stellt, das Thema Dachabsenkung plötzlich ausklammert und eigene Neuordnungsvorschläge macht.
Das für den 14. Juni angesetzte Treffen in der Kulturbehörde hätte man sich danach sparen können. Das Büro der Senatorin hinter einer beeindruckenden Altbaufassade an den Hohen Bleichen ist zwar ein heller, einladender Raum. Es gibt Wasser, Kaffee und grünen Tee. Aber das kann nichts daran ändern, dass die Stimmung schon zum Auftakt um 11 Uhr auf Konfrontation steht. Auf der einen Seite: Kisseler, Staatsrat Nikolas Hill, der Jurist Jochen Margedant und ReGe-Chef Heribert Leutner, auf der anderen Hochtief-Chef Eichholz. Einen seiner Fachleute bringt er nicht mit, sondern nur einen Anwalt.
Wie die Besprechung verläuft, geht aus dem Brief hervor, den Eichholz im Nachgang schreibt: „Sehr geehrte Frau Senatorin, der Verlauf des Treffens am 14. Juni hat uns sehr enttäuscht.” Hochtief tue alles, um die Elbphilharmonie fertigzustellen, allein zehn Ingenieure würden an der Saaldachthematik arbeiten. „Bitte machen Sie Ihren Einfluss geltend, dass alle Projektbeteiligten, einschließlich der ReGe, an einem Strang ziehen.“
Bei der ReGe ist man erbost. Die Hochtief-Vorschläge seien „völlig inakzeptabel” und sollten „ nur dazu dienen, uns länger hinzuhalten”, schreiben die Geschäftsführer an Eichholz. Hochtief bekomme „letztmals” die Gelegenheit, die Ende Mai vereinbarten Punkte bis zum 28. Juni zu unterzeichnen. Andernfalls betrachte die Stadt „die Verhandlungen als endgültig gescheitert”. Dieses dritte Ultimatum geht am 21.Juni um 19.20Uhr bei Hochtief ein.
Vier Tage später bettelt der Baukonzern bei der Kultursenatorin geradezu um eine Fristverlängerung bis zum 5. Juli. Kisseler gewährt diese noch am gleichen Tag und schreibt an Eichholz: „Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass die Freie und Hansestadt Hamburg am 5. Juli 2012 ihre definitive Entscheidung treffen wird und keine weiteren Verhandlungen beabsichtigt.”
Tatsächlich werden an diesem 5. Juli Eckpunkte für eine Neuordnung vereinbart: Hochtief senkt das Saaldach ab; Architekten und Hochtief planen künftig gemeinsam, und zwar noch ein Jahr; danach wird der Bau in 24 Monaten bis Mitte 2015 fertiggestellt; über strittige Kostenfragen entscheidet ein Schiedsgericht.
In einem kurzen Statement lobt Kisseler auf dem Flur ihrer Behörde die „neue Verhandlungskultur”. Die Beteiligten würden endlich wieder miteinander reden, „statt sich gegenseitig Dinge auf den Tisch zu legen”. Das ist einerseits ein krasser Widerspruch zu dem, was sich zwischen ihr und Eichholz abgespielt hat. Und tatsächlich wird auch dieses Eckpunktepapier keinen Bestand haben.
Kisselers Bemerkung über die neue Verhandlungskultur ist aber ein Hinweis darauf, was sich hinter den Kulissen noch abgespielt hat. Die zweite Geschichte. Ein neuer Akteur ist aufgetreten, sehr diskret, sehr einflussreich. Und er wird schließlich für die Wende sorgen.
Diese Geschichte beginnt in Spanien, wo Florentino Perez seit Ende der 90er-Jahre aus der Firma ACS durch Zukäufe den größten Baukonzern des Landes und einen der größten der Welt geschmiedet hat. International bekannt wird er als Präsident von Real Madrid und seine dortigen Personalzukäufe: Zidane, Ronaldo, Beckham... Seine rechte Hand bei ACS ist Marcelino Fernández Verdes, den er 2003 zum Chef der aufgekauften Baufirma Dragados macht. Sie errichtet unter anderem das spektakuläre „Forum 2004” in Barcelona. Architekten: Herzog & de Meuron, verantwortlich vor Ort: David Koch.
Der deutsche Architekt, Jahrgang 1967, und der erfahrene spanische Ingenieur, Jahrgang 1955, verstehen sich auf Anhieb. Kochs Frau ist Spanierin, er und Fernández sprechen eine Sprache, auch im übertragenen Sinn. Zwei sachliche, zurückhaltende Männer, das für die Baubranche typische Imponiergehabe haben sie nicht nötig. „Wir schätzen uns”, sagt Fernández. Und Koch sagt über den Spanier einen Satz, der in aller Schlichtheit als größtmögliches Lob zu verstehen ist. „Er will einfach nur bauen.” Und so bleiben sie auch über das Berufliche hinaus in Kontakt.
Im Frühjahr 2012, ACS hat sich Schritt für Schritt auch die Mehrheit an Hochtief gesichert, schickt Perez seinen besten Mann nach Essen: Marcelino Fernández Verdes soll den zweifelhaften Ruf von Hochtief, in der Branche mitunter als „Anwaltskanzlei mit angeschlossener Bauabteilung” verspottet, aufpolieren.
Fernández wird im April Vorstandsmitglied der Hochtief AG. Als Chief Operating Officer (COO) bekommt der Spanier ausdrücklich die Aufgabe, sich um die Risiken des Konzerns zu kümmern – allen voran die Elbphilharmonie. Denn die Entwicklung in Hamburg wird als massiv imageschädigend wahrgenommen.
Anfang Mai treffen sich Fernández und Koch in Hamburg. Der Spanier erkennt rasch den „Leidensdruck auf allen Seiten”, wie er sagt. Ihm ist auch klar, dass das weniger an den technischen Herausforderungen liegt, sondern an den handelnden Personen. „Mit gegenseitigen Schuldzuweisungen kommt man nicht weiter”, sagt er und fordert von seine Leuten Konzentration auf die Zukunft: „Was muss passieren, damit dieses Projekt erfolgreich fertiggestellt werden kann? Wie können wir wieder Vertrauen aufbauen?“
Koch stellt den Kontakt zur Politik her und rät, sich mal mit dem konstruktiven Spanier zu unterhalten, der werde bei Hochtief bald das Sagen haben.
Am 1. Juli ruft Fernández bei Kisseler an und stellt sich vor. Man unterhält sich auf Englisch und vereinbart ein Treffen. 3. Juli 2012, im Büro der Kultursenatorin. Kisseler spricht zunächst unter vier Augen mit Fernández. Sie finden schnell einen Draht zueinander. Ihr gefällt, dass er sich selbst nicht so wichtig nimmt, sondern klar ein Ziel formuliert: Die Elbphilharmonie sei enorm wichtig für das Renommee von Hochtief, man wolle sie unbedingt ordentlich fertigstellen.
Nach einer halben Stunde ist die Stimmung so gelöst, dass die beiden auch über andere Dinge parlieren, Städte, Menschen, über was man halt so redet. Schließlich stoßen auch Hill, Margedant und Koch dazu. Diese Runde wird sich noch oft treffen.
Die Öffentlichkeit erfährt von diesen Vorgängen nichts. Am 21. August legt der Senat einen Sachstandsbericht vor, der den Eindruck vermittelt, dass sich nicht viel tut. „Seit Herbst 2011 besteht in weiten Bereichen ein faktischer Baustillstand“, heißt es. Hochtief fordere derzeit allein wegen Projektänderungen 55,6 Millionen Euro mehr, zudem müsse man mit Forderungen wegen des enormen Zeitverzugs von 20 Monaten rechnen.
Mitten in dieser unklaren Gemengelage findet ein wegweisendes Treffen statt – in Venedig.
Am Rande der Architektur-Biennale sind Kisseler, Hill und Margedant am 27. August mit Fernández und Koch verabredet. Im feinen Privathotel Gabrielli an der Riva degli Schiavoni, unweit des Markusplatzes, trifft sich das deutsch-spanische Quintett im Café. Der Blick schweift über die Lagune von Venedig auf die Inselkirche San Giorgio – jenes historische Bauwerk, an das die HdM-Partnerin Christine Binswanger denken musste, als sie 2002 mit Alexander Gérard bei einer Hafenrundfahrt am Kaispeicher A vorbeikam.
Als das Gespräch konkreter wird, zieht man sich in einen diskreten Besprechungsraum des Hotels zurück, der nach hinten raus zum Hof liegt. Schnell wird klar, dass man sich zwar einigen möchte, dass aber das Anfang Juli vereinbarte Eckpunktepapier dazu nicht taugt. Vor allem wegen des Schiedsgerichts haben der Hochtief-Chef und der Architekt Bauchschmerzen. Sie fragen sich, wie das gehen soll: „Morgens treffen wir uns vor Gericht, um die Vergangenheit zu bewältigen, und am Nachmittag sollen wir konstruktiv auf der Baustelle zusammenarbeiten, um das Projekt gemeinsam fertigzustellen – das kann nicht funktionieren.“
Die Senatorin zeigt Verständnis, äußert aber auch, was die Stadt nun erwartet: ein sichtbares Zeichen, dass man Hochtief noch vertrauen kann. Und das könne nur die Absenkung des Saaldaches sein. Fernández zeigt sich gesprächsbereit.
Auf der Biennale stellen Herzog & de Meuron derweil ihren Beitrag vor: „Elbphilharmonie – The construction site as a common ground of diverging interests.“ Etwa: „Eine Baustelle als gemeinsamer Nenner für unterschiedliche Interessen.“ Rund um das Modell des Konzerthauses haben sie sämtliche Zeitungsartikel zu dem Projekt angebracht. Die meisten sind nicht schmeichelhaft. Das trifft es ziemlich gut.
Denn Pierre de Meuron überlegt ernsthaft, die Brocken hinzuschmeißen. Der weltweit tätige Architekt hat noch nie ein Projekt erlebt, bei dem die Beteiligten mit solcher Vehemenz gegeneinander arbeiten. Er sieht viele seiner Mitarbeiter an der Grenze der Belastbarkeit und fragt sich, warum er sich das eigentlich noch länger antun solle.
Am Abend gibt sein Büro einen Empfang. Kisseler und de Meuron sind zum Gespräch verabredet und ziehen sich mehrfach kurz zurück. Man habe eine gemeinsame Verantwortung, appelliert die Senatorin an den Stararchitekten. Er müsse unbedingt dabeibleiben! Der Schweizer macht aus seinem Frust keinen Hehl und betont: eine Kündigung von Hochtief und eine Einzelvergabe durch die Stadt führe ins Chaos. Und einen Murks wie den Nachtrag 4, der kein Problem gelöst habe, mache er nicht noch einmal mit. Er fordert: Wir brauchen eine komplette Neuordnung, mit Hochtief. Kisseler ist zwar verblüfft angesichts des deutlichen Bekenntnisses zu dem Baukonzern. Aber da auch sie und Bürgermeister Scholz eine Einigung der Trennung vorziehen, liegt de Meuron im Prinzip auf ihrem Kurs. Zum Abschied sagt man sich zu: „Wir kriegen das hin!“
Weder die ReGe noch der Aufsichtsrat der Bau KG sind über diese Geheimtreffen informiert. Sie werden auch nicht in Kenntnis gesetzt. Lieben-Seutter gießt sogar weiteres Öl ins Feuer: „Jetzt ist die Elbphilharmonie sowieso einmal als Lachnummer um die Welt gegangen. Du kannst eine Eröffnung einmal verschieben, dafür hat jeder Verständnis, das passiert fast überall – dass sie sich ein zweites Mal verschiebt, ist schon ein großes Pech, aber du kannst sie nicht drei-, vier-, fünfmal verschieben“, sagt er in einem Interview. Kaum ein Medienbericht, in dem die Elbphilharmonie nicht in einem Atemzug mit den Chaos-Baustellen Berliner Flughafen und Stuttgarter Bahnhof genannt wird.
Nun schaltet sich auch Olaf Scholz aktiv ein. Zwei Tage nach dem Gespräch in Venedig, am 29. August, trifft er sich erstmals mit Fernández. Als Kulisse dient einmal mehr das Bürgermeisteramtszimmer. Mit dabei sind Kisseler, Hill und Koch. Der Architekt, der Ingenieur Fernández und der Jurist Scholz sind prinzipiell einer Meinung: Es braucht eine völlige Neuordnung.
Der Bürgermeister hat zwar öffentlich stets betont, das Problem Elbphilharmonie nicht durch das Ausstellen eines weiteren großen Schecks lösen zu wollen. Aber ihm ist auch klar: Es wird für die Stadt teurer. Viel teurer, denn sie hat selbst enorme Fehler gemacht. Seine größte Sorge ist, dass er nur eine „Lösung“ findet, die dann doch keinen Bestand haben wird.
Den Bedenken Hochtiefs wegen der Dachsicherheit glaubt er nicht, entsprechend klar ist seine Forderung: Senkt das Dach ab, sonst wird gekündigt. Fernández verspricht zumindest, damit zu beginnen. Tatsächlich wird der Absenkvorgang am 17. September eingeleitet, begleitet von einem aufwendigen Messprogramm.
Daneben gibt es ein zweites Entgegenkommen: Hochtief bietet der Stadt Einblicke in die Kalkulation an. Demnach geht der Baukonzern von reinen Baukosten von 642,8 Millionen Euro aus, hat aber bereits Rückstellungen in Höhe von 80 Millionen Euro gebildet. Hochtief braucht also mindestens gut 560 Millionen Euro, um mit der Elbphilharmonie nicht vollends in die roten Zahlen zu rutschen. Das sind gut 180 Millionen Euro mehr als die 380 Millionen, die dem Konzern seit Nachtrag 4 zustehen.
Während Scholz also auf eine Einigung hinarbeitet, fahren die ReGe und ihr Aufsichtsrat einen anderen Kurs. Am 19. September beschließen die Kontrolleure: „Die Verhandlungen zum Abschluss einer Neuordnungsvereinbarung sind gescheitert.“ Im Namen von Bau KG und ReGe bitten Leutner und Peters die Kulturbehörde schriftlich „um Zustimmung zur Einleitung des Kündigungsverfahrens“.
Als Anlagen sind angefügt ein vorformuliertes Kündigungsschreiben an Hochtief und eine Aufstellung über die Kosten für beide Szenarien. Unterm Strich das Entscheidende: Die Mehrkosten würden bei Fortsetzung in Eigenregie 349 Millionen Euro betragen und mit Hochtief 346 Millionen, davon jeweils gut 200 Millionen reine Baukosten. Allerdings bestünde bei Kündigung theoretisch die Möglichkeit, insgesamt 244 Millionen Euro von Hochtief vor Gericht zurückzufordern, wobei eine Erfolgsquote von 50 bis 80 Prozent realistisch sei, also 122 bis 195 Millionen.
Im Herbst 2012 muss die Politik sich entscheiden: Macht man mit Hochtief weiter und legt 200 Millionen Euro obendrauf? Oder macht man für etwa die gleiche Summe allein weiter und erhält sich die Chance, einen Teil der Summe vor Gericht zurückzuholen?
Scholz glaubt nicht an die Chancen einer Klage. Der Fachanwalt für Arbeitsrecht weiß, dass sich vor Gericht selten eine Seite durchsetzt. Der Stadt stünde eine bis zu zehn Jahre anhaltende Schlammschlacht mit völlig ungewissem Ausgang bevor. Also nimmt er das Votum des Aufsichtsrats zur Kenntnis – aber eine Antwort wird der Senat nie schreiben. Stattdessen geht er seinen Weg weiter.
Kurz nachdem auf der Plaza das erste öffentliche Konzert auf der Elbphilharmonie-Baustelle veranstaltet wurde, das „human requiem" mit Brahms' „Deutschem Requiem", verlieren die ersten Beobachter langsam die Nerven. Als Scholz am 8.November beim einflussreichen Freundeskreis Elbphilharmonie zu Gast ist, nimmt ihn der Vorsitzende Nikolaus W. Schües heftig ins Gebet: „Sie regieren im kommenden März nun zwei Jahre, und zwar mit einer Machtfülle wie keiner Ihrer Amtsvorgänger. Nun warten wir langsam auf Vollzugsmeldungen.“
Der Bürgermeister lässt sich nicht aus der Reserve locken. Aber zwei Dinge verspricht er: Die Elbphilharmonie werde in jedem Fall zu Ende gebaut. Und: „Es wird vor Weihnachten eine Entscheidung geben.“ So oder so.
Damit ist die Bühne bereitet für das große Finale. Zwei Nachrichten aus dem Hause Hochtief bilden den Vorspann: Fernández gewinnt im November den Machtkampf beim Baukonzern und wird – wie von Koch prophezeit – Vorstandsvorsitzender der AG. Damit ist klar, dass Scholz und Kisseler auf den richtigen Mann gesetzt haben. Und am 23. November vermeldet Hochtief, das Dach sei nunmehr vollständig abgesenkt und stabil. Damit ist auch die wichtigste Forderung der Stadt erfüllt.
Der erste Akt steigt am 4. Dezember 2012: Um 17.30 Uhr beginnt bei der ReGe im Sumatrahaus in der HafenCity die 39. Aufsichtsratssitzung der Bau KG. Ein zackig-windschiefer Bau, mit vielen kleinen, unpraktisch schmalen Fenstern. Irgendwie typisch HafenCity. Der Bau-KG-Aufsichtsrat tagt im 1. Stock, Raum 3. Ein schmuckloser Sitzungssaal mit acht aneinandergeschobenen Zweiertischen, schwarzen Bürostühlen und Beamer an der Decke.
Olaf Scholz nimmt an der Stirnseite Platz. Er bittet die Anwesenden um die Beantwortung von fünf Fragen für den Fall, dass die Stadt Hochtief kündigen sollte: Wie groß ist das Risiko, dass eine Kündigung juristisch keinen Bestand hat? Wie schnell kann man die Baustelle in Besitz nehmen? Wie lange wird dann noch Stillstand herrschen? Wie sicher ist die Kostenschätzung für das Kündigungsszenario? Wie werden die Architekten bei der Stange gehalten?
Dann berichtet er über die Hochtief-Berechnungen, wonach der Bau den Konzern 642 Millionen Euro kosten wird. Er erzählt, dass noch am Vormittag ein neues Angebot im Rathaus eingegangen sei. Danach würde sich Hochtief mit 557 Millionen begnügen.
Lindenberg wirft ein, dass das finanziell dicht an der Kalkulation der ReGe für eine Einzelvergabe liege. „Also sollten wir nicht auf den Cent schauen, sondern das Risiko der beiden Alternativen bewerten.“ Scholz’ Vorschlag lautet, die Restplanung von Baufirma und Architekten gemeinsam machen zu lassen. Hochtief würde dann die komplette Haftung aus Vergangenheit und für die Zukunft übernehmen, eine Termingarantie geben und das Versprechen, sein Claim Management einzustellen.
Leutner kommentiert: „Wir haben die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen.“ Die Entscheidung wird vertagt. In den folgenden Tagen glühen die Drähte zwischen Stadt, Architekten und Hochtief, vor allem zwischen Scholz, Koch und Fernández. Immer neue Angebote gehen ein, doch immer lautet die Botschaft aus dem Rathaus: Das reicht noch nicht. In der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember geht schließlich ein Schreiben ein, mit dem der Baukonzern fast alle Forderungen der Stadt erfüllt – auch die Übernahme der Haftung für alles bisher Gebaute sowie neue Zwischentermine im Bauablauf und entsprechende Strafen.
Auf Basis dieses Papiers beginnt am 14. Dezember um 10 Uhr morgens die entscheidende 40. Aufsichtsratssitzung der Bau KG. Wie schon 2003, 2006 und 2008 wird über das Schicksal der Elbphilharmonie also mal wieder kurz vor Weihnachten entschieden.
Außer Scholz und Kisseler ist auch der Aufsichtsrat der ReGe anwesend. Die städtische Gesellschaft hat noch andere Projekte als die Elbphilharmonie und daher ihr eigenes Kontrollorgan mit Finanzsenator Peter Tschentscher an der Spitze. Zeitweise zieht sich dieses Gremium in den Raum 2 auf der anderen Seite des Flurs zurück – die beiden Geschäftsführer von ReGe und Bau KG, Leutner und Peters, eilen dann zwischen den Sälen hin und her.
Wie wird sich Scholz entscheiden? Es geht ziemlich durcheinander. Aufsichtsrat Friedrich Boyens sagt: „Man muss das Projekt jetzt selbst in die Hand nehmen. Tschentscher erwidert: „Durch das letzte Hochtief-Angebot haben wir eine völlig neue Grundlage.“ Lindenberg äußert erneut Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit von Hochtief.
Um 12 Uhr wird die Sitzung nach zwei Stunden beendet – wieder ohne Entscheidung. Scholz bedankt sich für die „sehr gehaltvolle Diskussion“ und verlässt den Raum. Die Kontrolleure rätseln: Wie geht die Geschichte aus?
Zunächst fährt der Bürgermeister zurück ins Rathaus. Um 13 Uhr informiert er die Medien über das vorliegende Angebot von Hochtief. Danach trifft er sich mit den Fraktionschefs und informiert sie in gleicher Weise. Scholz erzählt später, dass er sich den ganzen Abend und die halbe Nacht „das Hirn zermartert“ habe, was er machen soll.
Für den nächsten Morgen, es ist Sonnabend, der 15. Dezember, hat Scholz den Senat zu einer Sondersitzung einberufen. Beginn ist um 9.30 im Rathaus. Die Stimmung ist ungewöhnlich angespannt. Inzwischen ist zwar allen Beteiligten klar, dass man heute den Weiterbau mit Hochtief absegnen will, aber es fehlen immer noch letzte Details. Noch während der Senatsvorbesprechung, an der auch die SPD-Fraktionsspitze teilnimmt, geht auf Scholz’ i-Pad ein letztes Angebot von Hochtief ein. Es enthält nun auch die Zusicherung, dass die Stadt kündigen darf und umgehend auf die Baustelle kommt, wenn die Verträge nicht bis zum 28. Februar 2013 in trockenen Tüchern sind.
Damit ist auch die letzte Forderung der Stadt erfüllt, das ist der endgültige Durchbruch. Durchatmen. „Die Erleichterung war spürbar“, sagt ein Senatsmitglied. An diesem 15. Dezember 2012, gegen 12 Uhr mittags, steht fest: Die Stadt nimmt das Hochtief-Angebot an. Es wird weitergebaut.
Auf der anschließenden Pressekonferenz in Saal 151 des Rathauses wirkt der Bürgermeister locker und gelöst, der Druck ist abgefallen. Scholz demonstriert, wie tief er sich in das Thema eingearbeitet hat, und hält einen fast einstündigen Monolog über die Geschichte und die Details der Einigung – ohne eine schriftliche Vorlage.
Die wichtigsten Eckpunkte: Aus zwei getrennten Verträgen mit dem Generalplaner Herzog & de Meuron und dem Generalunternehmer Hochtief wird ein einziger Vertrag mit Hochtief. Die Architekten werden zu einem Subunternehmer des Baukonzerns und planen gemeinsam mit diesem das Gebäude zu Ende. Dabei obliegt ihnen die „künstlerische Oberleitung“. Fertigstellung soll am 30. Juni 2016 sein, Abnahme bis 31. Oktober 2016.
Die Architekten werden „enthaftet“, stattdessen übernimmt Hochtief die Garantie für alles, was bisher gebaut wurde und was noch zu bauen ist. Und: Der Baukonzern verpflichtet sich mehrfach und ausdrücklich, keine Forderungen mehr zu erheben. Dafür erhöht sich sein Lohn um fast 200 Millionen Euro: von 378 auf 575 Millionen – davon entfallen aber 35 Millionen auf die Architekten, die nun von Hochtief bezahlt werden und damit auf ein Honorar von insgesamt 94 Millionen Euro kommen. Bedingung: Die Stadt darf keine neuen Wünsche mehr einbringen.
Ein echtes Problem ist das vor allem für Heribert Leutner. Er hatte sich innerlich darauf eingestellt, das Projekt in Eigenregie weiterzubauen, und wird nun zu einem besseren Zuschauer degradiert. Leutner verbringt Weihnachten auf Teneriffa und entscheidet sich dort, seinen Posten zu räumen. Ohne Verbitterung, wie er sagt. „Ich habe ja einen erheblichen Teil zum Gelingen beigetragen. Die Neuordnung ist nur möglich gewesen, weil wir als ReGe vorher sehr konsequent die Rechte der Stadt Hamburg verteidigt und solch eine harte Linie aufgebaut haben.“ Am 7. Januar informiert er Finanzsenator Tschentscher über seinen Schritt.
Mit Martin Heyne hat am 1. Januar ohnehin ein dritter Geschäftsführer bei der ReGe seinen Dienst angetreten. Der erfahrene Baumanager von ECE wurde eigentlich geholt, weil er als Experte für Einzelvergabe gilt und genau das tun sollte: das Projekt ohne Hochtief unter seiner Regie zu Ende bauen.
Doch stattdessen muss Heyne nun für die Stadt Verhandlungen mit Hochtief und den Architekten über einen neuen Vertrag führen. Bis Ende Februar haben sie dafür Zeit, es werden zwei extrem intensive Monate. Heyne, Koch und Hochtief-Projektleiter Dirk Rehaag sitzen oft bis in die Nacht zusammen.
Am 1. März 2013 verkündet der Senat: Der Vertrag ist zu Ende verhandelt, er heißt jetzt doch offiziell „Nachtrag5“. Ebenso wie die Altverträge wird er im Internet veröffentlicht – ein Novum, das Vertrauen schaffen soll. Unterschrieben ist das Werk aber immer noch nicht, denn die umfangreichen Anlagen des Vertrags sind noch nicht zu Ende verhandelt. Es dauert noch bis zum 9. April, bis alle Fragen gelöst sind, und zwei Wochen später stimmt der Senat dem Nachtrag 5 offiziell zu.
Was nach schlichtem Vollzug klingt, wirft tatsächlich zwei große Themen auf: Nachdem sich seit Ende 2008 als Kosten für die Elbphilharmonie die Summe 323 Millionen Euro eingebrannt hatte – die in Wahrheit nur die Kosten der Stadt für den Konzertbereich wiedergab –, nennt der Senat jetzt erstmals alle Kosten. Demnach kostet die Elbphilharmonie 865 Millionen Euro. Eine unvorstellbare Summe, die einschlägt wie eine Bombe.
Abzüglich Spenden und dem Erlös aus Wohnungen und Vorplanung muss die Stadt davon 789 Millionen Euro zahlen – das Zehnfache jener 77Millionen Euro, über die Ole von Beust 2005 gesagt hatte, das sei „pessimistisch“ geschätzt. Zur Entlastung kann nur angeführt werden, dass die Elbphilharmonie heute größer und opulenter ist als jene, die 2005 in Planung war.
Für das zweite Problem sorgt die Bürgerschaft: CDU, Grünen, FDP und Linkspartei sind erbost, dass der Senat dem Parlament diktiert, dass es bis Ende Juni zustimmen müsse, sonst werde die ganze Neuordnung hinfällig. Außer der Opposition empfinden auch etliche SPD-Abgeordnete den Zeitdruck als unangemessen. Offen sagen mag das aber niemand.
Ausgerechnet eine Idee der Linkspartei nimmt der Opposition den Wind aus den Segeln: Sie schlägt vor, die Neuordnung von unabhängigen Experten begutachten zu lassen.
Und dabei kommen alle fünf Experten zu dem Ergebnis, dass der Vertrag gut für die Stadt ist. „Der Gutachter empfiehlt dringend die Zustimmung“, heißt es in dem Papier des renommierten Baurechtsexperten Professor Claus Jürgen Diederichs. Eine Kündigung von Hochtief wäre hingegen „mit hohen Risiken“ verbunden. Professor Stefan Leupertz, ein ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof, sagt am 31. Mai vor dem Haushaltsausschuss: „Ich habe noch nie einen Vertrag gesehen, der ein solches Maß an Sicherheit für den Auftraggeber bietet.“
Ob diese Neuordnung aber eine Kostensteigerung um mehr als 200 Millionen Euro rechtfertigt, können die Experten nicht beurteilen. In der Tat handelt es sich dabei um eine pauschale Einigungssumme. Eine detaillierten Nachweis, wie der Betrag zustande kommt, gibt es nicht. Auch der enorme Zeitdruck auf die Abgeordneten ist nicht wegzudiskutieren. Und so steht die SPD am 19. Juni allein da: Am Ende einer hitzigen Bürgerschaftsdebatte beschließen die Sozialdemokraten, die den Nachtrag 4 noch abgelehnt und zwei Untersuchungsausschüsse eingesetzt hatten, den Nachtrag 5 allein. Die FDP enthält sich. Außer Grünen und Linken stimmt auch die CDU dagegen – damit verabschiedet sich die langjährige Regierungspartei aus der Verantwortung für das Konzerthaus.
Auch um den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses gibt es Streit. Vor allem der CDU ist der Entwurf, der im Sommer vertraulich vorgelegt wird, zu tendenziös. Man verständigt sich auf eine Überarbeitung. Mit der neuen Version wird Anfang 2014 gerechnet. Vielleicht lässt sich das Thema so noch in den Wahlkampf ziehen. Anfang 2015 ist Bürgerschaftswahl.
Dass dann noch Probleme am Bau eine Rolle spielen, wird hingegen unwahrscheinlicher. Unmittelbar nach der Zustimmung der Bürgerschaft zur Neuordnung werden die Bauarbeiten wieder aufgenommen. Der 3. Juli 2013 darf sogar historisch genannt werden: Erstmals seit dem Richtfest vor mehr als drei Jahren treten Stadt, Architekten und Baukonzern wieder gemeinsam auf. Barbara Kisseler, David Koch und Hochtief-Projektleiter Thomas Perkowski präsentieren den Neustart des Jahrhundertprojekts auf der Baustelle. Gut 100 Meter über dem Wasser ist der Blick über die Stadt atemberaubend, die Stimmung gelöst. „Die Vereinbarung ist keine Liebesheirat, sondern eine Vernunftehe“, sagt Barbara Kisseler. „Die halten bekanntlich länger.“
Mitte September zeigt sich, dass die Neuordnung zu funktionieren scheint: Hochtief hält den ersten Zwischentermin ein und liefert das vereinbarte Sicherheitskonzept. Beim zweiten Zwischentermin im November, dem Abschluss der Betonarbeiten, hat sich Hochtief schon einen kleinen Vorsprung herausgearbeitet. Es gibt erste Spekulationen: Wird die Elbphilharmonie früher fertig als geplant? Klar ist: Für den Baukonzern ist das die einzige Möglichkeit, noch Geld zu verdienen.
Im Dezember 2013 legt der Senat den ersten Sachstandsbericht seit dem Neustart im Sommer vor. Unter „Kosten“ heißt es: „Seit der Neuordnung wurden keine Nachträge o.ä. durch Hochtief gestellt.“
EPILOG
Herbst 2013. Ein feuerroter Bürobau in Bramfeld. An der weißen Wand im Foyer stehen Schlagworte wie „Transparenz“, „Fairness“ und „Qualität“. Hier sitzt Hochtief, Niederlassung Hamburg. Im 4. Stock hat Thomas Möller sein Büro, er ist der Chef von 2000 Mitarbeitern. Hat Hochtief sich den Auftrag für die Elbphilharmonie durch einen zu niedrigen Preis ermogelt? Um dann durch beinhartes Claim Management auf seine Kosten zu kommen? „Nein“, sagt Thomas Möller. „Die Branche ist nicht so. Hochtief ist nicht so. Und ich bin nicht so.“
Hinter ihm steht ein Flipchart mit einem Bild. Darauf ist eine Figur zu sehen, die mit den Fingern in einem Wasserbottich zugange ist. Daneben steht: „Fehler verbergen ist genauso töricht wie Korken versenken. Sie kommen immer wieder an die Oberfläche.“
Ein unscheinbarer Altbau unweit der Alster. Ole von Beust kommt die Treppen herunter. Braun gebrannt, Jeans, das weiße Hemd lässig geöffnet, schwarze Weste, braunes Sakko. „Moin moin. Gehen Sie schon mal hoch, ich muss noch kurz die Parkuhr nachfüllen.“ Sein Büro? Keine 20 Quadratmeter, weiße Wände, grauer Teppich, sein alter Glasschreibtisch aus dem Rathaus, zwei Bilder, die auch schon in seinem Amtszimmer hingen. Hier arbeitet der Mann, dem viele Hamburger die Schuld an dem ganzen Schlamassel geben. Weil sie glauben, dass er sich ein Denkmal setzen wollte.
Beides stimme nicht, sagt Ole von Beust. „Wer mich kennt, weiß, dass ich so nicht bin, dass mir Statussymbole und Wahrzeichen nichts bedeuten. Ich habe die Elbphilharmonie immer relativ emotionslos betrachtet.“ Dass es so fürchterlich schiefgegangen ist, tut ihm leid. Er hat sich Gedanken gemacht, zwei Hauptgründe sieht er dafür. Erstens der Baubeginn bei unfertiger Planung. Aber das habe er ja nicht gewusst, damals, im Sommer 2006. „Der zweite war das Vertrauen in Herrn Wegener und die ReGe. Das war so groß, dass es keine ausreichende Kontrolle gab.“ Aber das sagt sich jetzt alles so leicht. Deshalb ist von Beust ein Satz wichtig: „Im Nachhinein ist man immer klüger.“
Ende November in Basel, ein nasskalter Nachmittag, der Rhein, die Fassaden der schönen alten Häuser, der Himmel – alles eine graue Brühe. Die Stimmung von Pierre de Meuron? Auch eher grau. Immer diese Probleme mit der Elbphilharmonie. Über Jahre habe man sich nicht auf die eigentliche Arbeit konzentrieren können. „Ich habe so etwas noch nie erlebt.“ Viel lieber würde er über dieses tolle Projekt sprechen, diese geniale Idee, eine gläserne Woge von Konzerthaus auf einen Backsteinspeicher zu setzen, dazwischen ein frei zugänglicher öffentlicher Raum. Er hat extra ein riesiges Luftbild von Hamburg an die Wand hängen lassen, nun zeigt er auf diesen magischen Punkt im Fluss: „Der Ort ist herausragend.“
Jacques Herzog kommt herein, die Stimmung hellt sich auf: „Wie das Projekt entstanden ist, war einzigartig, unglaublich“, schwärmt Herzog. „Da gab es keinen Politiker oder Firmenchef, der sich verwirklichen wollte, sondern die ganze Stadt wollte es. Bottom-up statt Top-down.“
„Die ganze Stadt“, die findet man zum Beispiel in Billbrook, Bredowstraße. Ein riesiges tristes Gewerbegebiet. Straßen, Schienen und Lagerhallen. Und mittendrin Menschen wie Kay Krauth. Er arbeitet für das Logistikunternehmens Fenthol & Sandtmann. Klingt ein bisschen wie Herzog & de Meuron. In einer der supermodernen Hallen, geschützt durch Zugangscode und Videoüberwachung, da liegt sie. Die Elbphilharmonie, oder zumindest ihr bestes Stück. Die „Weiße Haut“, diese 15 Millionen Euro teure Innenverkleidung, die dafür sorgen soll, dass alles gut wird. Dass die Elbphilharmonie Weltklasse klingt.
8000 dieser extrem schweren Gipsfaserplatten, die unbestritten eine Hauptrolle in diesem großen Wunschkonzert spielen, sind schon da, 2000 kommen noch dazu. Sie liegen in klobigen Holzkisten, geschützt zwischen Styropor und Luftkissen. In dieser Woche, am Freitag, den 13. Dezember, beginnt die Montage. Für Kay Krauth ein besonderer Moment: „Wir haben einen kleinen Teil zum Bau der großen Elbphilharmonie beigetragen“, sagt er. „Und darauf sind wir stolz.“
Dann streicht er vorsichtig mit der Hand über das filigrane Wellental dieser massiven Gipsplatte. So was hat die Welt noch nicht gesehen.