Szenisch aufgestockt, musikalisch abgesenkt: „Das Phantom der Oper“ von Sir Andrew Lloyd Webber ist zurück, leider ohne große Stimmen. Das Orchester unter Leitung von Klaus Wilhelm aber überzeugt restlos.
Hamburg Ein gutes Gedächtnis kann ungnädig machen. Keine Frage: „Das Phantom der Oper“ in der Neuen Flora ist das Musical-Comeback des Jahres. Die Show, die nach vielen Voraufführungen am Donnerstag ihre echte Premiere erlebte, wurde in vielen Details eindrucksvoll überarbeitet und macht aus einem der schönsten Musicals von Sir Andrew Lloyd Webber ein noch etwas schöneres. Doch vor die Figur des realen Phantomdarstellers auf der Bühne schiebt sich immer wieder geisterhaft ein zweites Phantom – das der Erinnerung. Mathias Edenborn, der die Rolle jetzt singt und spielt, ist halt ein Musicalsänger. Dem Hamburger Ur-Phantom Peter Hofmann und anderen operngeschulten Inkarnationen dieser Figur vermag er stimmlich nicht das Wasser seiner Opernunterwelt zu reichen.
So gesellen sich im Kopf mancher Zuschauer bald Sänger früher Phantom-Aufführungen zu Edenborn und bilden einen gespenstischen Phantomchor. In dem singt neben Peter Hofmann, dem langjährigen Star der Hamburger Erfolgsserie, die von 1990 bis 2001 währte, auch Michael Crawford, das Uraufführungsphantom aus London. Valerie Link als neue Hamburger Christine Daaé bleibt weniger weit hinter großen Besetzungen zurück, an Sarah Brightman oder Anna Maria Kaufmann reicht sie aber längst nicht heran.
Im Orchesterbereich hat das Musical-Unternehmen Stage Entertainment Personal eingespart. 14 Musiker sitzen bei der Wiederaufnahme im Bühnengraben, früher spielten dort fast doppelt so viele. Ein kleines Blasorchester der Gewerkschaft Ver.di trötete zur „Medienpremiere“ am Mittwochabend tapfer vor dem Eingang der Neuen Flora gegen den Einfluss der technischen Entwicklungen auf die Zahl der Arbeitsplätze an. Künstlerisch lässt sich dieser Protest kaum begründen, Musiker werden hier durch Keyboardstimmen ersetzt. Für den Zuschauer macht das kaum einen Unterschied, von Playback kann keine Rede sein. Bei der Premiere überzeugte das Orchester unter der Leitung von Klaus Wilhelm restlos.
Inszenatorisch und technisch lassen sich beim auferstandenen „Phantom“ in seiner Kostüm- und Kulissenpracht klare Fortschritte verzeichnen. Light- und Soundsysteme sind optimiert. Ein herrliches Bild bietet erneut der Maskenball zu Beginn des zweiten Akts, der gegenüber dem ersten Akt eine deutliche Steigerung darstellt. Auch der Kronleuchter rauscht beim Racheakt des Phantoms gegen die Opernbesitzer schneller nach unten. Allerdings dürfte er die spektakulären 160 Kilometer pro Stunde einer legendären australischen Produktion nicht erreichen. Für echte Fans ist das „Phantom“ ungeachtet solcher Detailfragen ein Muss. Keine Aufnahme kann schließlich die Gänsehaut in der Live-Vorstellung ersetzen.
Und selbst wenn Edenborn und Link nicht an die großen Stimmen heranreichen, liefern sie doch eine gute Show. Das gilt auch für Christines Verehrer Raoul Vicomte, auch wenn Nicky Wuchingers etwas unsicher singt. Voll und ganz überzeugen kann im Reiche der Sängerinnen und Sänger nur Michaela Christl als Ballettchefin Madame Giry, gut unterstützt von Rachel Anne Moore, die als Carlotta Guidicelli immerhin eine hinreißende Karikatur einer Primadonna abliefert. Theano Makariou überzeugt als Tochter der Giry. Guido Gottenbos und Anton Rattinger spielen und singen als Opernbesitzer eine solide komische Vorstellung, Raymond Sepe macht seine Sache als Don-Juan-Darsteller ausgezeichnet.
Das Musical um das entstellte, leidende, maskierte, verbrecherisch-geniale Phantom in der Unter- und der Opernwelt der Pariser Oper, das zu Mord und Kompositionen neigt, bleibt eines der stärksten Musikdramen überhaupt. Die herrlichen Anklänge an Puccini und Lehár bleiben unerreicht. Auch die deutschen Texte von Michael Kunze erwiesen sich bei der Wiederaufnahme als frisch wie am ersten Premierentag.
So ziehen bei der Wiederaufnahme alle großen Szenen am „Phantom“-Liebhaber vorbei: Von den Proben zur Oper „Hannibal“, während derer sich der erste Bühnenunfall ereignet, über die Garderobenszene, in der Christine die wahre Identität ihres Stalkers erkennt, und das berühmte Duett des Phantoms mit Christine am Grab ihres Vaters bis zum großen Finale im Versteck des Phantoms, in dem Raoul nur knapp überlebt, weil das Phantom ungewohnte Gnade walten lässt. Es verschwindet ein letztes Mal unter einem Mantel auf seinem Thron. Am Ende bleibt in der Hand ihrer Finderin Meg Giry nur die Maske zurück.
„Das Phantom der Oper“, Neue Flora, täglich außer montags.
Karten: Abendblatt-Tickethotline 30 30 98 98