Das Schauspielhaus feierte mit dem Stück „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ Premiere auf dem Gelände von Studio Hamburg. Was wir sehen, ist eine Zukunftswelt, in der die Menschen gleich gekleidet, scheinbar gleich geschaltet sind.
Hamburg „Alles Weitere kennen einige von Ihnen sicher aus dem Kino“ – als dieser Satz fällt, der Martin Crimps Stück den (fast gleich lautenden) Titel gab, ist die Hälfte von Katie Mitchells Inszenierung bereits erzählt. Das Schauspielhaus feierte am Wochenende mit dem Stück Premiere auf dem Gelände von Studio Hamburg. Da haben sich die Ödipus-Söhne Eteokles und Polyneikes bereits zum tödlichen Bruderkrieg verabredet und Gewalt und Tod, die das antike Drama des Ödipus und seiner Familie begleiten, sind allgegenwärtig. Doch was wir sehen, ist eine Zukunftswelt, in der die Menschen gleich gekleidet, scheinbar gleich geschaltet von einer geheimnisvollen, autoritären Ordnungsmacht getrieben wie unter Strom herumrennen. Ein schriller Ton surrt, Türen knallen, Lichtschranken öffnen oder schließen sich, ein magisch gesteuertes Aktionstheater beginnt.
Beunruhigend schön, rätselhaft, düster sieht es auf der Bühne aus – kunstvoll wie bei dem frühen Bob Wilson. Man spricht Tragödienton und Jugendslang, man zwingt die antiken Charaktere dazu, ihre Geschichte preiszugeben. Die Gewalt der Vergangenheit pflanzt sich fort in die Zukunft. Fremdheit, Feindseligkeit, Rachegefühle, die Gleichgültigkeit gegenüber den Nächsten beherrschen die Menschen seit Urzeiten und wohl noch sehr lange. Der Grundtenor setzt sich aus Angst und Verfolgung zusammen.
Der Engländer Martin Crimp hat aus Euripides’ Antikendrama „Die Phönizierinnen“ ein modernes Stück gemacht: „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“. Euripides, rund 500 vor Christus geboren, war sozusagen der erste Psychologe des Theaters. Für ihn kam das Ungeheure nicht aus der Unterwelt der Götter, er hat es in der menschlichen Seele entdeckt. Der von den Göttern abgenabelte, der selbstständig und damit auch einsam gewordene Mensch war sein großes Thema, das versteht man noch heute. Crimp verlagert die Geschichte um Iokaste und ihre blutschänderische Beziehung zu ihrem Sohn Ödipus in einen science-fiction-artigen Terrorstaat, in dem Menschen abgeführt werden und verschwinden, in dem Türen knallen und sich Stühle wie von selbst über die Bühne bewegen, in dem ein schwarz gekleideter Chor junger Frauen gleichförmig und flink Requisiten, die das antike Horrordrama für seine blutige Geschichte benötigt, in Glaskästen heranschleppt und präsentiert. Alles ist choreografisch aufeinander abgestimmt, alles klappt roboterhaft wie am Schnürchen. Man denkt an Filme wie „Fahrenheit 451“ oder „Gattaca“, die in einer dauerüberwachten Welt spielen.
Im Bühnenbild einer alten, verfallenen Villa, von der der Putz abblättert und sich Pflanzen wieder einen Weg durchs Gemäuer bahnen (Bühne: Alex Eales), werden Menschen abgeführt, schikaniert, ausgefragt. Schummrig ist das Licht, Geistermusik wabert.
Katie Mitchell inszeniert an renommierten englischen und deutschsprachigen Theatern und Opernhäusern. Sie zerlegt in ihren Aufführungen gern alle Elemente der Erzählung, um so die Mittel des Erzählens offenzulegen. Hier lässt sie den Chor der jungen Frauen Iokaste oder Kreon zwingen, das Grausame zu Ende zu spielen. Julia Wieninger spielt Iokaste, Frau und Mutter des Ödipus, mit einer gegenüber den durchdeklinierten Bildern ungewöhnlichen Wärme. Sie erzählt ihre Familiengeschichte – wie der ihr unbekannte Sohn erst seinen Vater ermordet, dann sie heiratet und sich später selbst die Augen aussticht – wie eine Getriebene, doch voller Anmut.
Ihr Bruder Kreon ist bei Paul Herwig ein sich sehnlichst und verzweifelt, aber vergebens gegen den Lauf der Dinge stellender Herrscher. Er fragt den Seher Teiresias (Michael Wittenborn) nach dem Schicksal und erfährt, dass er seinen Sohn Menoikeus (Uwe Dreysel) opfern soll. Doch dieser opfert sich selbst. Christoph Luser als Eteokles und Bastian Reiber als Polyneikes sind zwei eisig verfeindete Brüder, die einander töten, weil sie es nicht schaffen, die Macht untereinander aufzuteilen. Sie sind eher Intellektuelle als Kraftprotze. Einzig Sophie Krauß als deren Schwester Antigone wirkte in der stringent choreografierten Inszenierung zu gefühlig und zittrig.
Mitchell findet ein paar wunderbare Bilder. Sie lässt einige Passagen spielen, um sie dann von den Schauspielern noch einmal wie in einem Film rückwärts ablaufen zu lassen. Könnte man das Geschehen ändern, gar beeinflussen, wenn man einiges noch mal auf Anfang stellen, ganz anders machen könnte? Nein, heißt die Antwort. Denn nach dem Rückwärtslauf geht alles genauso zwangsläufig weiter wie vorgesehen.
Der knapp zweistündige Abend bietet künstlerisch innovatives, fesselndes Theater. Das Stück nach einem langen Arbeitstag anzusehen könnte jedoch eine Herausforderung werden.
Nächste Vorstellungen: 29.11. und 3.12.