Kirsten Boie ist als Kinderbuchautorin berühmt geworden. Ihr erschütterndes neues Buch „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ richtet sich an Jugendliche – und Erwachsene.
Hamburg. Darf sie das? Ist es legitim, dass eine deutsche Autorin die Perspektive eines afrikanischen Kindes einnimmt – oder ist das, bei allem guten Willen, am Ende eine subtile Neuauflage des Kolonialismus? Komplexe Fragen. Sie stellten sich der Hamburger Autorin Kirsten Boie, als diese ihr jüngstes Buch „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ preisgab, so muss man es wohl ausdrücken.
„Ich habe mich sehr schwer damit getan“, erzählt die preisgekrönte Schriftstellerin beim Treffen in einem Café in der Neustadt. „Ich bin relativ sicher, dass die Kinder aufgrund ihres vollkommen anderen Erfahrungshintergrundes anders fühlen und denken, als ich das geschrieben habe.“
Boie ist mit einem riesigen Oeuvre an Kinderliteratur berühmt geworden; sie schreibt über Piraten oder Ritter, aber auch über unbequeme soziale Themen wie Obdachlosigkeit. Was sie in dem entlegenen Königreich Swasiland im südlichen Afrika erlebt hat, wollte Boie ursprünglich gar nicht veröffentlichen: „Ich habe meine Eindrücke zunächst nur aufgeschrieben, um sie zu bewältigen.“ Erst Monate später änderte sie ihre Meinung. Es ist ein Glück, dass sie es getan hat: Kaum mehr als 100 Seiten umfassen die vier Erzählungen und gehören doch zum Beeindruckendsten, was Boie geschaffen hat, inhaltlich wie literarisch. Heute Abend liest die Autorin in der Buchhandlung Heymann Eppendorf aus dem Buch.
Dass Boie überhaupt zweifelte, zeugt davon, wie skrupulös sie mit ihren Stoffen umgeht. Dabei hat sie gar nichts hinzuerfunden. Sie hat lediglich aufgeschrieben, was ihr Kinder aus Swasiland erzählt haben. Aids-Waisen. 45 Prozent aller Kinder in dem Land sind Voll- oder Halbwaisen.
Kirsten Boie schreibt in einfachen Worten, aber mit einem enormen Resonanzraum, von einfachen Vorgängen. Von Kindern, die sich auf den Weg machen, zu Fuß, ohne Schuhe, viele Kilometer weit. In „Jabus Schuhe“ will Lungile in der Stadt Arbeit finden und vom Verdienst Schuhe für ihre kleine Schwester kaufen, damit die zur Schule gehen kann; ohne Schuhe dürfen auch Waisen nicht zur Schule gehen. Nur will in der Stadt niemand Lungiles Arbeit – bis auf zwei Männer an der Tankstelle.
Die karge Szene reicht Boie aus, um ein Szenario von Not, stummer Trauer und Verlassenheit zu zeichnen und einen unentrinnbaren Teufelskreis dazu. Das Wort Aids taucht in dem Buch sowenig auf wie die Worte Tod oder Prostitution. „Dies ist kein guter Tag“ – für Lungile nämlich – „aber sie ist ja nicht die einzige hier bei Matsapha Truck Stop, und die Mädchen tun es alle, und die Fahrer tun es immerzu in allen Ländern, und manche verschont die Krankheit, der Herr ist allmächtig, und Jabu soll zur Schule gehen.“
Natürlich hat Boie nicht einfach nur Protokoll geführt. Die Sprache, in der sie die Geschehnisse umreißt, ist so kunstvoll verknappt, dass sie mit Kinderliteratur kaum noch etwas gemein hat. Gefühle schildert Boie nicht, sondern verwendet Chiffren, um anzudeuten, was in den Kindern vorgeht: die alte Dose etwa, in der Sonto ihr Erinnerungsbuch aufbewahrt. Ihre Mutter hat es auf dem Sterbebett geschrieben.
Der Eindruck einer hermetisch abgeschlossenen Erzählwelt wird noch verstärkt durch die postkartenschöne Berglandschaft, in der sich die stillen Tragödien abspielen. Der Distrikt Shiselweni, in dem Boie sich über den mobilen Kinderdienst MobiDik-Swasiland engagiert, ist einer der abgelegensten des Landes. Mehr als ein paar Löffel Maisbrei am Tag kann sich dort kaum jemand leisten; an moderne Telekommunikation ist nicht zu denken. Diese archaische wirkende Welt entspricht in vielem dem, was der Kenia-geprüfte Normalverbraucher sich unter dem Kontinent vorstellen mag. Doch in diese scheinbare Idylle schlagen immer wieder Fremdkörper ein wie Meteoriten. Es sind diese schmerzhaften Kontraste, die Boies Bilder über jeden Verdacht des Klischees erheben. Den nagelneuen, chromglänzenden Rollstuhl für die Großmutter etwa kann keiner benutzen, weil er über die holprigen Wege nicht zu schieben ist und nur zusammengefaltet in die Hütte passt. Er ist das Geschenk einer Hilfsorganisation.
Es kommt kein Blut vor, kein Eiter, keine gewalttätigen Szenen. Womöglich gehen die Erzählungen gerade deshalb so tief. Die Themen sind frühestens für Zwölfjährige geeignet, die Machart eher für Erwachsene. Wer dem Sog von Boies lakonischer Sprache erst einmal erlegen ist, wird ihr durch jede der raffiniert montierten Rückblenden folgen.
Dass weite Teile einer Generation wegsterben und Scharen von Kindern ohne Eltern aufwachsen müssen, ist ein neues gesellschaftliches Phänomen, das auch stärkere Länder als Swasiland an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit brächte. Manchmal betreut eine Großmutter die Kinder; viele leben aber auch als „child headed families“ allein.
„Die Kinder brauchen etwas, das niemand ihnen geben kann“, sagt Boie. Vielleicht lässt sich dieser Gedanke überhaupt nur im Tun ertragen, im Hinschauen. Und im Schreiben.
Kirsten Boie: „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen" Oetinger, 112 S., 12,95 Euro. Ab 14 Jahren. Lesung 24.10., 20.30, Buchhandlung Heymann, Eppendorf. Eintritt 9 Euro