„Gabrielle“, eine sympathische Mischung aus Sozialdrama, Familienfilm und Liebesgeschichte, eröffnet das Filmfest Hamburg. Der Film ist für den Oscar nominiert.

Hamburg Sehr niedlich, wie Gabrielle Marion-Rivard im himmelblauen Abendkleid an der Hand ihres Filmpartners Alexandre Landry und ihrer Regisseurin Louise Archambault vor ein paar Wochen die Treppe zur Bühne vor der riesigen Leinwand des Filmfestivals von Locarno hinaufstieg – sie wollte den 7000 Zuschauern auf der Piazza Grande vor der Vorführung noch ein Grußwort zurufen. Da konnte sie noch nicht ahnen, dass der Film, der schlicht ihren Vornamen als Titel trägt, den Publikumspreis in Locarno gewinnen würde. Womöglich wird sie mit ihren beiden Begleitern heute Abend schon etwas mondäner und lässiger über den roten Teppich vor dem Cinemaxx schreiten, wenn das 21. Filmfest Hamburg mit „Gabrielle“ eröffnet wird.

Denn es läuft fabelhaft für „Gabrielle“, diese sympathische Mischung aus Sozialdrama, Familienfilm und Liebesgeschichte. Kurz nach Locarno gewann der Film zwei Preise beim Festival für den frankofonen Film in Angoulême, vor zwei Tagen wurde er sogar als kanadischer Beitrag im Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert. In Quebec kam „Gabrielle“ am 20. September in die Kinos, seitdem überschlagen sich die Leute in ihren Online-Kommentaren vor Rührung und Begeisterung. Albert Wiederspiel hatte also wieder mal einen guten Riecher, als er sich vor Wochen für dieses leicht tiefgängige Konsens-Movie zur Eröffnung des Filmfests Hamburg entschied (heute, 20 Uhr, zweite Vorstellung am 27.9. um 19 Uhr im Passage). Für Chronisten: Es ist bereits der dritte (auch) Chorfilm seiner Amtszeit, dem Wiederspiel dieses maximale Rampenlicht des Eröffnungsabends gönnt.

Zu den Filmen, die einem kraft grandioser Bilder in Erinnerung bleiben, zählt „Gabrielle“ nicht. Optisch verströmt er den Charme eines mit geringem Budget produzierten Dokumentarfilms. Überwältigung des Zuschauerauges ist nicht vorgesehen, um so mehr dafür die Erweckung seines Gerechtigkeitssinns und das Überfließen seines Herzens. Gabrielle, anrührend verkörpert von Gabrielle Marion-Rivard, lebt in einer Behinderten-WG, deren Bewohner sich gemeinsam mit anderen Behinderten auf einen großen Chor-Auftritt vorbereiten. Die junge Frau ist mit dem Williams-Beuren-Syndrom auf die Welt gekommen, einer genetischen Abweichung, die neben manchem Handicap auch oft hohe Musikalität mit sich bringt. Gabrielle liebt das Singen, sie hat das absolute Gehör und ein umwerfendes Lächeln. Und bringt ihre Gefühle derart unverstellt zum Ausdruck, dass das sichtbare emotionale Spektrum unbehindert ihr Leben Lebender dagegen ziemlich farblos erscheint.

Gabrielle entdeckt ihre Sexualität und ihr Begehren, denn da ist Martin (glänzend gespielt von dem nicht behinderten Schauspieler Alexandre Landry), der im Chor mitsingt. Auch Martin hat eine leichte Entwicklungsstörung, lebt aber zu Hause bei seiner etwas grobschlächtig gezeichneten Mutter Claire (Marie Gignac), die die wie eine Knospe im Mai über Nacht aufknallende Liebe zwischen den beiden nicht goutiert. Die ungewöhnliche Natürlichkeit, mit der die aufeinander so neugierigen jungen Liebenden agieren, ist eine der großen Stärken des Films. Bei ihren zarten und doch entschiedenen Erkundungen filtert die Regisseurin Louise Archambault wiederholt die Tonspur auf ein Minimum an Signalen. Der Effekt plötzlicher Taubheit durch Glück taucht noch einmal auf, wobei dass unvermittelte Verschwinden der hörbaren Außenwelt durch etwas ganz anderes ausgelöst wird, Gabrielles Orientierungsschwierigkeiten allein im Straßenverkehr und in der Stadt.

Denn sie hat sich in den Kopf gesetzt, dass sie selbstständig leben muss, um Martin sehen zu können. Sie will eine eigene Wohnung und Familie, das ganz normale Leben eben. Nur ist das normale Leben für eine wie sie schwer zu haben. Und Gabrielles Schwester Sophie (Mélissa Désormeux-Poulin), stets ihr Stecken und Stab, ist auf dem Absprung nach Indien, wo ihr Freund ein Kindermusik-Projekt aufgezogen hat.

Endlich singen Les Muses de Montréal auf diesem Open-Air-Festival, für das sie so lange geprobt haben, als Background-Chor für den großen Volkssänger des Quebec, Robert Charlebois. Der Wohlfühlfaktor erreicht seinen Höhepunkt. Und Gabrielle und Martin haben den allerschönsten Grund, ihren Auftritt fast zu verpassen.