In “Moby Dick“ am Thalia Theater harmonieren die acht Schauspieler miteinander, als wären sie eine Person. Romero Nunes lässt seine acht Schauspieler keine einzelnen Rollen spielen.
Hamburg. Am Anfang und lange noch danach, ist alles schwarz auf der fast leeren Bühne des Thalia Theaters: Die Schauspieler in ihren Kostümen, die Wände, die Stimmung. „Moby Dick“, Herman Melvilles großer Abenteuerroman über die Jagd nach dem weißen Wal, den der junge Regisseur Antú Romero Nunes zur Saisoneröffnung in eine Theaterform gegossen hat, als dunkler Ort des Grauens?
Nein, denn nach rund 30 Minuten zähen Philosophierens über die Gottlosigkeit, das Majestätische wie das Dämonische, die Schönheit und die Zerstörungskraft der Natur oder die Farbe Weiß, verlieren die acht Schauspieler, die dabei starr auf der Bühne herumstanden, ihre Ruhe und schmeißen sich so heftig in ihre Rollen als Walfänger wie nur Männer es können, mit ihrer Lust am Herumtoben, am Kräftemessen, am Auspowern und gemeinschaftlichen Schuften. Da wird gerudert, gestochen, gekämpft, geschwommen, gebadet, die Männer wälzen sich, ohne sich zu schonen, in Blut, Wasser und Schweiß. Manchmal sehen sie dabei aus, wie zappelnde Fische, die man an Land geworfen hat. Sie kämpfen mit der See, dem Wind und der Härte des Daseins – scheinbar ohne Ende. Denn kaum ist ein Wal pantomimisch unter Aufbietung aller Kräfte gefangen, zerlegt und zu Öl verarbeitet, kaum haben sie einem Unwetter getrotzt, kaum sind sie nass bis auf die Haut und in neue, zerschundene Kleidung geschlüpft, da heißt es schon wieder los, auf zur nächsten Jagd, ab in den nächsten Sturm.
„Er bläst“, ruft dann einer, der die Fontäne eines Wals gesichtet hat. Rein ins imaginäre Boot, „pull, pull, pull“, brüllt der Steuermann, die Rückenmuskeln spannen sich, man keucht, kämpft gegen Wellen und sich wehrende Tiere, ein mörderischer Kreislauf. Für die Zuschauer wirkt das schon bald wie ein Action-Film, all die Mühe, die Anstrengung, das glitschige Deck, das Blut, in dem die Männer rennen, rutschen, raufen und rackern, um ihre Beute zu verwerten. Eine Seefahrt, die ist nicht lustig, sie ist unermüdlicher Überlebenskampf gegen Naturgewalten, gegen das Unheimliche und die Zerstörung. Nur gemeinsam ist man stark und ganz selten ist mal Zeit, einen Shanty zu singen. Und so entwickelt sich der zweieinhalbstündige Abend, der so statisch begann, zu einem mitreißenden Abenteuer über die Sinnsuche in der Weite und im Nichts des Meeres, über die unablässige Mühe des Daseins aller Suchenden. Der weiße Pottwal Leviathan, Sinnbild aller Dämonien des Lebens und des Denkens, wird am Ende alle mit sich reißen. Denn es ist sinnlos, sich dem unabwendbaren Schicksal, dem wir unterworfen sind, entgegenzustemmen. Die Gier, die Monomanie, die Maßlosigkeit, sie enden im Tod.
Romero Nunes lässt seine acht Schauspieler keine einzelnen Rollen spielen. Es gibt keinen Käpt’n Ahab, keinen Ismael, alle stehen stellvertretend für die Masse Mensch. Gemeinsam und harmonisch wunderbar aufeinander eingespielt meistern sie die ausufernden Gedanken über Naturbetrachtungen ebenso wie das Herumrutschen auf dem schwarzen Gummiboden, der mal voller Regen, mal voller Wasserreste aus Flaschen ist, mit denen sie sich gegenseitig einsprühen, um so die ewige Nässe oder die Mengen von Blut auf einem Walfangschiff zu verdeutlichen. Sie zerlegen gemeinsam den Wal, machen gemeinsam sauber, steigen gemeinsam zum Bad in einen Bottich, sie bewerfen sich spielerisch mit nassen Handtüchern. Sie leben zusammen, teilen alles – ganz so, wie es bei einer Weltumsegelung, einer Jagd nötig ist. Man spürt die beängstigende Einsamkeit auf See und die Bedeutung des Zusammenhalts. Die acht Schauspieler geben alles und harmonieren miteinander, als wären sie eine Person. Mal sprechen sie chorisch, als sei’s ein Stück von Jelinek, mal halten sie Vorträge, als seien sie Melvilles Roman voller vielschichtiger Beschreibungen entsprungen.
Blut, Wasser und Walfett fließen in Strömen, gelegentlich auch ins Parkett
Beispielsweise Jörg Pohl, wenn er 20 Minuten naturwissenschaftliche Betrachtungen über den Wal zum Besten gibt und dies so hinreißend komisch, so überdreht raushaut, dass man ihm gerne auch noch weitere 20 Minuten zugeschaut hätte. Was weiß er nicht alles? „Der Pottwal wiegt so viel wie alle Zuschauer im ausverkauften Schauspielhaus zusammen.“ Und dass er nur „eine Handvoll Hirn“ habe. Dagegen doziert Daniel Lommatzsch souverän und cool, Mirco Kreibich träumt verwundert und Rafael Stachowiak schwärmt still. Mit Julian Greis, Thomas Niehaus, André Szymanski und Sebastian Zimmler steht ein perfekt eingespieltes, virtuoses Ensemble auf der Bühne, bei dessen Anblick halb nackter und ständig nasser Körper man sich fragt, wie lange sie dieses schweißtreibende Action-Theater wohl durchhalten mögen. Blut, Wasser und Walfett fließen in Strömen, gelegentlich auch ins Parkett.
Eine Windmaschine, viele, viele Wasserflaschen und -kanister sowie ein großer Vorhang sind so gut wie das Einzige, was das Bühnenbild hergibt (Matthias Koch). Die Bilder werden von den Schauspielern erzeugt.
Fast am Ende wird es dann leider noch bedeutungsschwer. Die Schauspieler sprechen im Chor Sätze wie „Irgendein Sinn muss in allem verborgen sein“, „Der Mensch ist ein Wunder“, „Ist Ahab Ahab?“ „Bin ich ich?“ Schade, auf dieses Geschwurbel hätte man gerne verzichtet, denn viele wahre, und bewegende Bilder zu Sinn und Sinnsuche hatte man zuvor auf der Bühne gesehen.
Doch dann, zum Schluss, kommen 44 Seemänner auf die Bühne. Typen aus der ganzen Welt sind dabei, es wird arabisch und russisch gesprochen. Die Männer rufen, brüllen. Und die Soundanlage des Theaters schafft eine gewaltige, apokalyptische Stimmung, eine Atmosphäre für Gänsehaut. Rumms. Alle und alles geht unter. Ein gewaltiger Schluss, nicht unbedingt von Melville, aber vom Publikum mit rauschendem Beifall versehen.