Der gefeierte Jungregisseur Antú Romero Nunes will Herman Melvilles Großroman „Moby Dick“ an diesem Freitag zum Saisonauftakt auf die Bühne des Thalia Theaters hieven.

Hamburg. Auf einer Probe besteht die höchste Kunst manchmal auch darin, die Dinge ohne Requisiten zu erzählen. Acht Männer stehen auf der Bühne des Thalia Theaters. Mit ausladenden Gesten ziehen sie offenbar einen dicken Fisch an Land. Einer gibt die Kommandos. „Ich bin ja auch Seerechtler und mit allen Wassern gewaschen“, brüllt Daniel Lommatzsch. „Was sind die Freiheiten und verbrieften Menschenrechte der Welt, wenn nicht Losfische.“

Der Unterschied zwischen Festfisch und Losfisch ist nur ein Thema, dem Herman Melville in seinem über 800 Seiten starken Großroman „Moby Dick“ eine lange Passage widmet. Auf 200 von ihnen lässt er sich allein über Walarten aus. Im Jahr seines Entstehens, 1851, lasen viele aus dem Werk des amerikanischen Schriftstellers eine Art „Meuterei auf der Bounty“. Der Stoff erlangte eine breite Popularität durch mehrere vor allem auf die Abenteuergeschichte setzenden Verfilmungen, die bekannteste stammt 1956 von John Huston mit Gregory Peck in der Hauptrolle. Dabei umfasst die Waljagd im Roman gerade mal 40 Seiten.

Regisseur Antú Romero Nunes sitzt auf der Probe in der ersten Reihe. Leger in Kapuzenjacke und mit Mütze ist der Regisseur nur daran zu erkennen, dass er fast stoisch Kommandos erteilt. Noch keine 30 Jahre ist er alt, noch immer gilt er als Regiewunderkind. Erst kürzlich hat er den Friedrich-Luft-Preis erhalten. Bereits zum zweiten Mal darf er an diesem Freitag im Thalia Theater eine Spielzeiteröffnung stemmen. Und nach dem „Merlin“ vor zwei Jahren hat er sich wiederum nicht eben einen schmalen Stoff ausgesucht.

Ein Satz aus dem Roman war es, den ihm der Schauspieler Jörg Pohl ins Gedächtnis brannte. „Das Leben ist ein Witz und er geht auf unsere Kosten.“ Die Geschichte vom besessenen Kapitän Ahab, der sich mit der Unausweichlichkeit des Schicksals nicht abfinden will, ist nur äußerer Anlass für die brennenden Fragen der Menschheit. Für ausschweifende Exkurse in Philosophie, Soziologie und Biologie. In seiner Bedeutung steht der Roman in einer Linie mit Werken von James Joyce oder Alfred Döblin. Gemeinsam mit Dramaturgin Sandra Küpper hat Antú Romero Nunes den Stoff auf 25 dicht bedruckte Seiten kondensiert.

Auf der Bühne ringen die Darsteller mit dem lautmalerischen Klang. Sounddesigner Rewert Lindeburg versucht Ton und Situation synchron zu bekommen, schneidet hektisch Spuren zusammen. Antú Romero Nunes fragt nach der „Rudermusik“. Die ganz reale Umsetzung der Fahrt auf See verlangt vollen Einsatz von der Bühnentechnik. Vieles geschieht über Licht und Sound, deren Einrichtung dreimal so viel Zeit beansprucht, wie sonst.

„Moby Dick bedeutet, dass die Welt von außen angemalt, in Wirklichkeit ein Leichentuch ist. Wir können uns dem Schicksal beugen oder versuchen durch die Maske zu schlagen und zu gucken, was dahinter ist“, sagt der Regisseur. „Es ist aussichtslos, aber das ist egal.“ In „Moby Dick“ gibt es keine Figuren im dramatischen Sinne, sie entwickeln sich nicht, sie durchleben keine Wendepunkte. Auf der Bühne stehen acht Spieler, die alle ihr Thema haben. Auch wenn sie nicht Ismael, den Erzähler, oder Starbuck, Ahabs Gegenspieler, oder auch den für das Abstreifen der Zivilisatorischen stehenden Polynesier Queequeg verkörpern. Es sind Männer, die sich gegen den Freitod und für eine Reise mit ungewissem Ausgang entscheiden. „Die äußere Handlung spiegelt sich in jedem von ihnen“, so Nunes. „Auch Ahab wird auf eine Weise deutlich. Es ist egal, ob es Ahab ist oder ob es ein Schmerz ist, der da spricht, trotzdem wird man ihn sehen.“

Kapitän Ahab stellt sich die entscheidende Frage: „Bin ich irre oder ist die Welt irre?“ Zumindest bildet er sich ein, sie zu begreifen. „Der Irrsinn nimmt seinen Lauf. Ob es Melvilles ist oder Ahabs, weiß man nicht.“ Melville spricht von einem Phantom, das neben uns steht, uns auslacht und Stiche zufügt. „Das ist ein echter Schmerzpunkt“, sagt Nunes. „Man muss nur einen Menschen verlieren, um zu erfahren, wie elend das ist, dass man niemanden zur Verantwortung ziehen kann. Trotzdem muss man weitermachen.“ Ahabs Schmerzpunkt liegt darin, dass ihm der weiße Pottwal ein Bein abgerissen hat und er ihm mit blindem Hass nachjagt.

Für Nunes folgt daraus eine Konsequenz. „Wir können nur noch sinnlos werden. Sich im Sinn zu wähnen, heißt wahnsinnig werden.“ Er versuche, das in einen schmerzhaften Abend zu verwandeln. Düster und gewaltig werde der Abend. Und frei nach einem Melville-Satz, das Große aus dem Himmel zu pflücken, in der Tiefe zu ertauchen, in der körperlosen Luft zu gestalten, inszeniert Nunes auf den ersten Blick in eine Leere, in eine Schwärze hinein. Eine Schwärze, die zum Ausdruck bringt, dass eben die Welt, obwohl ein Berg der Liebe, in ihren unsichtbaren Sphären ein Werk des Schreckens sei. Ein ganzes Kapitel widmet Melville dem „Weiß“, jenem Licht, das farblos bleibt, solange es nicht auf Materie trifft. In jedem Nebensatz stecken kleine, bittere Wahrheiten. Noch in der äußersten Schicht, die man von der Walhaut abkratzen kann und die sich getrocknet als Lesezeichen benutzen lässt, liest Melville Wesentliches heraus. Das schließt Bereiche wie die Gesellschaft und das Rechtssystem mit ein. „Ist denn nicht Besitz das ganze Recht?“ heißt es da. Ganz nebenbei hinterfragt der Stoff herrschende Denkmodelle der Gegenwart.

Die Ehrlichkeit und Authentizität am Theater, um die Nunes in all seinen Arbeiten ringt, entwickelt sich, wenn es um die Menschen hier und jetzt geht. Er genießt es, mit einem Team zu arbeiten, das seine anfängliche Unsicherheit akzeptiert und sich auf eine gemeinsame Suche begibt. „Ich staune, wie sich das entwickelt. Durch die Kraft und auch ästhetisch läuft es wie von selbst“, sagt Nunes. Auf der Bühne geht gerade ein Mann über Bord. „In die Boote!“, brüllt Mirco Kreibich. Ein Fischkopf wird abgetrennt. Ein Eimer angestochen. Ein Mann gerettet und mit Rum bedacht. Noch einmal davongekommen.

„Moby Dick“ Premiere Fr 6.9., 20.00, Thalia Theater, Alstertor, Karten T. 32 81 44 44;

www.thalia-theater.de