In diesem Jahr wäre Henri Nannen 100 Jahre alt geworden. Jetzt beschreibt ihn seine Enkelin und Abendblatt-Autorin Stephanie Nannen in einem sehr persönlichen Buch.
Der Hamburger Journalist Günther Dahl hat einmal geseufzt: „Ich möchte ihn ermorden und dann an seiner Bahre weinen.“ „Ihn“ – das war Henri Nannen, Gründer und langjähriger Chefredakteur des „Stern“. Der „weiße Elefant“, wie manche seiner Redakteure ihn hinter seinem Rücken nannten, war ein Titan der deutschen Medienlandschaft, auf Augenhöhe mit anderen Titanen wie Axel Springer, Rudolf Augstein oder Gerd Bucerius. Mit dem „Stern“ veränderte er Deutschland, brach Tabus, verschob Grenzen, betrat mediales Neuland. Nannen war Berserker und Feingeist zugleich, geliebt und gehasst, wie Dahls Zitat illustriert, ein besessener Journalist, gefürchtet in seinem Zorn, respektiert in seinem Urteil.
In diesem Jahr am 25. Dezember wäre der 1996 verstorbene Henri Nannen 100 Jahre alt geworden. Abendblatt-Autorin Stephanie Nannen, seine Enkelin, hat ein Buch über ihren Großvater geschrieben, das an diesem Montag im Bertelsmann Verlag erscheint. („Henri Nannen. Ein Stern und sein Kosmos“). Er war ihr Vertrauter und Verbündeter; „ein empfindsamer, wuchtiger, unglaublich lebendiger Mensch, neugierig, begeisterungsfähig und unangepasst“, sagt sie.
Stephanie Nannen hat mit Weggefährten ihres Großvaters gesprochen, unter ihnen prominente Journalisten wie Michael Jürgs und Manfred Bissinger, Starfotografen wie Robert Lebeck, aber auch Politiker wie Helmut Schmidt, Gerd Schröder, Hans-Dietrich Genscher oder Egon Bahr. Es ist eine umfassende Spurensuche nach den Wurzeln und den Motiven dieser schillernden Persönlichkeit, basierend auf Briefen, Archivmaterial und sehr persönlichen Gesprächen.
Henri Nannen, so viel wird schnell deutlich, war ein ganz besonderer, und ganz gewiss kein einfacher Mensch. Als Chefredakteur kein ausgeglichener Primus inter Pares; er war ein peitschenschwingender Dompteur; eine Naturgewalt, die nicht selten andere verletzte. Und er leitete den „Stern“ nicht nur und machte ihn zu einem der einflussreichsten Medien seiner Zeit, er w a r der „Stern“. Unglaubliche 35 Jahre lang hat er dem Magazin seinen Stempel aufgedrückt. „Mein Großvater war einer, unter dessen Schritten sich Erde erst zu einem Weg formte“, sagt die Autorin. „Auch deshalb, weil er sie zur Not platt walzte und alles, was ihm in die Quere kam, dazu. Er bestimmte, ob das ein Weg war. Und die Menschen glaubten ihm“.
Entstanden war der „Stern“ 1948 aus einer Jugendzeitschrift namens „Zick-Zack“, deren Lizenz Henri Nannen von den Briten erhalten hatte. Zuvor schon, 1946, hatte er die Lizenz für die Tageszeitung „Hannoversche Neueste Nachrichten“ bekommen und war dann von 1947 bis 1949 Chefredakteur der „Hannoverschen Abendpost“. Nun wandelte er also das Kinderheft in eine Illustrierte für Erwachsene um. Mit dem Schreiben kannte er sich bereits aus, er hatte im Krieg unter anderem in der Propagandaabteilung „Südstern“ gedient – aber auch als Bordschütze in Bombern Feindflüge unternommen. „Südstern“ war zwar der SS-Standarte „Kurt Eggers“ unterstellt, doch Nannen war nie SS-Mitglied, wie später von seinen Gegnern behauptet wurde.
Zwar schrieb er als Kunstrezensent einige Lobreden auf Adolf Hitler, fiel aber wegen seiner Freundschaft mit einer Jüdin zeitweise in Ungnade, prügelte sich auch mit einem Polizisten, der Juden beschimpft hatte, bot Juden Unterschlupf an und war sogar bei der Befreiung einer Jüdin aus dem KZ Ravensbrück beteiligt. An Leni Riefenstahls berühmt-berüchtigtem „Olympiade-Film“ von 1936 wirkte er als Sprecher mit. Seine ambivalente Haltung belastete ihn später enorm. „Ja, ich war damals zu feige“, schrieb er in einem „Stern“-Editorial im Februar 1979. Helmut Schmidt, als Oberleutnant selber Kriegsteilnehmer, sagte zu Stephanie Nannen: „Er muss diesen Zwiespalt, den wir alle kennen, besonders stark empfunden haben, den Zwiespalt zwischen dem den Deutschen anerzogenen Pflichtbewusstsein einerseits und der Einsicht, dass alles Blödsinn war, was wir machten oder Verbrechen waren…“ Schmidt ist überzeugt davon, dass der Krieg eine große Bedeutung für das weitere Tun Nannens hatte.
Als ungefähres Vorbild für den neuen „Stern“ schwebte Nannen die „Berliner Illustrirte Zeitung“ Leopold Ullsteins vor, die sehr aktuell war und auf deren Titel bereits großformatige Fotos prangten. Der erste „Stern“ kostete 40 Pfennige, ab Juni 1949 war der Verleger Nannen zugleich Chefredakteur. Die Redaktion, die bald nach Hamburg verlegt wurde, umfasste ganze sechs Leute, die den Krieg nur knapp und zum Teil verwundet überlebt hatten. „Hart im Nehmen allesamt, nicht nur was die Bugwelle ihres Chefs anbelangt, die sie hin und wieder traf“, schreibt Stephanie Nannen. Der frühere Ressortleiter Ausland Klaus Liedtke, der später selber Chefredakteur des „Stern“ werden sollte, erinnert sich: „Er hatte diese bedingungslose Begeisterung, die Leidenschaft fürs Blattmachen und für alles, was mit Publizistik und dem ‚Stern‘ zu tun hatte“. 1951 verkaufte Nannen seine Anteile am „Stern“ an Gerd Bucerius, der „Die Zeit“ verlegte. Heute gehört das Magazin Bertelsmann und der Familie Jahr. Doch gefühlt bleibt es immer Nannens „Stern“; bis 1980 war er Chefredakteur, und bis 1983 Herausgeber.
Die Frage, wie der im ostfriesischen Emden geborene Nannen dieses Magazin zeitweise zum größten Europas machen und die Bundesrepublik mit prägen konnte, beantworten Zeitgenossen so: „Der hatte das alles in seinem Bauch.“ Doch „Bauch“ bedeutet in diesem Fall weit mehr als bloße Intuition, wie seine Enkelin vermerkt: „Nannens Bauch – das meint seine gesamte Aura, seine Wirkung auf Menschen, seinen blitzgescheiten Verstand, seine Skrupellosigkeit in manchen Dingen, seine Unnahbarkeit, seine Wärme, seine unglaubliche Portion Charme, aber auch die Furcht, die er unter den ‚Stern‘-Kollegen verbreiten konnte, indem er einige von ihnen mit einer Eiseskälte abkanzelte, es meint die Bedingungslosigkeit und den Perfektionismus, mit dem er arbeitete, es meint die Unruhe, die ihn durchs Leben trieb und die Kraft, die sich aus seiner Wirkung auf andere entwickelte…“ Wenn es erforderlich war, arbeiteten seine Leute fast rund um die Uhr, Nannen hat kein Verständnis für Journalisten, die Überstunden aufschreiben.
Als größten Egomanen, den er je gekannt habe, beschreibt ihn sein Freund und Mitarbeiter Victor Schuller. Stephanies Vater Christian Nannen sagt: „Im Fokus meines Vaters hat es immer nur einen Menschen gegeben – und das war er selber“. Zugleich ging von ihm eine enorme Liebe aus; seine Persönlichkeit hatte völlig verschiedene Facetten, die nebeneinander existierten. Nie sei er erschöpft gewesen, nie außer Atem, nie des Objektes überdrüssig, das er gerade in der Mache hatte, sagt Schuller. Manchmal sei das für andere eine Tortur gewesen. Und Gerd Bucerius meinte: „Nichts, was er macht, ist ihm selbst gut genug – daher seine große Leistung.“ Frauen spielten nicht nur auf der Titelseite des „Stern“ und im Blatt eine Rolle, sondern auch im Privatleben Nannens. Dreimal war er verheiratet; und die Zahl seiner Liebschaften ist Legion. Nannens berüchtigtem Zorn widmet seine Enkelin ein eigenes Kapitel. Doch kleinlich und nachtragend war er nie. „Wo ist denn Herr Soundso?“, erkundigte er sich in einer „Stern“-Konferenz. „Den haben Sie gestern rausgeworfen, Herr Nannen!“ „Ach – das hat der doch wohl nicht ernst genommen??“
Henri Nannen übte qua „Stern“ Macht aus und bewegte Dinge im Lande. Sein Produkt war hochpolitisch; einen „Musikdampfer“ wollte er nicht machen. Und er ließ durchaus Kampagnenjournalismus beim „Stern“ zu. Nur mit der Wahrheit könne man Politik machen, sagte er, meinte aber auch, dass jede Wirklichkeit verschiedene Interpretationen haben könne. „Ein Chefredakteur muss an das Blatt geflochten werden, wie an ein Rad“, sagte Nannen: „Liegt er unten, blutet er. Ist er oben, ist es sein Sieg“. Er lag lange ganz oben, flog mit Bundeskanzlern um die Welt und nutzte seinen Einfluss. Unten lag er erst, als der „Stern“ im Frühjahr 1983, nicht mehr mit ihm als Chefredakteur, in die Pleite der gefälschten Hitler-Tagebücher rauschte, die von der Hand des Diktators stammen sollten, tatsächlich aber vom Fälscher Konrad Kujau verfasst wurden.
Die Glaubwürdigkeit des Magazins, das 62 Bände für mehr als neun Millionen Mark angekauft hatte, leidet entsetzlich. Und mit ihm Henri Nannen, der Vater des „Stern“. „Sich bewusst zu werden, dass alles, wofür er gearbeitet hat, in Auflösung begriffen war, das war furchtbar für ihn“, sagt Stephanie Nannen. In dem folgenden, sehr emotional ausgetragen Kampf um die Schuldfrage wurden in der „Stern“-Redaktion viele alte Rechnungen beglichen; die kollektive Wut richtete sich auch gegen ihren langjährigen Chef und jetzigen Herausgeber. Nannen fühlte sich verraten und starb einen journalistischen Tod. Und überlebte ihn.
Der Mann, der einst Kunstgeschichte studiert und über Jahrzehnte sein Vermögen zum Sammeln von Kunst eingesetzt hatte, zog nun in seine Geburtsstadt Emden zurück. „Er fand Frieden, wenn er vor einem Bild saß“, sagt seine Enkelin über den notorisch Ruhelosen, der manchmal mit Depressionen und Einsamkeit kämpfte. „Ein Nolde hing im Wohnzimmer, Ernst Ludwig Kirchner im Schlafzimmer.“ Henri Nannen stiftete der Stadt seine bedeutende Sammlung vor allem deutscher Expressionisten, die 1986 in einer eigens gebauten Kunsthalle Platz fand und wurde Ehrenbürger. „Wir hätten ihn beim ,Stern’ behalten sollen“, sagt Michael Jürgs, einer der Nachfolger als Chefredakteur, „als Senior Editor oder so. Mit Büro. Und als er tot war, hätten wir ihn auch behalten sollen. Das Zimmer abschließen. Einfach damit die Figur da ist. So hätten wir immer gewusst: Wir können ja zu Nannen gehen.“