Der neue Kommissar, sein Kollege, das Männerbild und ein Kriminalfall im Rotlichtmilieu - “Willkommen in Hamburg“ in der Vorabanalyse.
Der sehr erfolgreiche Schauspieler Til Schweiger hat zuletzt alles dafür getan, damit man über den "Tatort" spricht. Seinen "Tatort", in dem er am Sonntagabend erstmals als Kommissar Nick Tschiller ermittelt. Hat gleich mal auf der Erkennungsmelodie des lang gedienten ARD-Flaggschiffs herumgehackt (zu altbacken, angeblich!) und dem Ersten vorgeworfen, zu geizig bei der Produktion der Vorzeigekrimis zu sein. Schweigers Debüt geht dagegen in die Vollen. Nick Tschiller ballert und haut feste zu - und was dürfen die Zuschauer sonst noch so erwarten? Die Abendblatt-Kulturredaktion hat den Tatort "Willkommen in Hamburg" einer genauen Analyse unterzogen.
Til Schweiger
"Willkommen in Hamburg" trägt eindeutig den Schweigerstempel: Bloß nicht zu subtil werden, um Himmels Willen! Ein Hardboiled Cop ist ein Hardboiled Cop , wenn er bei der Einsatzpremiere drei Männer umbringt und mit Körpereinsatz hilflose Schutzbefohlene aus fahrenden Autos rettet. Schweigers Ermittler Nick Tschiller redet so wie alle Schweigerfiguren sprechen: Mit einer irgendwie leiernden Stimme, die grundsätzlichen Trotz und permanentes Genervtsein, aber auch bockiges Selbstbewusstsein ausdrückt. Manchmal guckt Tschiller wie ein angefahrener Dackel, das kennen wir von Schweigers anderen Rollen. Wie auch das natürliche Lebensumfeld, in dem sich ein Schweiger aufhält - ein Großstadtgehege mit eigenwilligen Damen, die seine Töchter sind, seine Exfrauen oder berufliche Gegenspieler. Und ihm emotional zugetan, weil er Pizza mitbringt, sein Motorrad in der Wohnung aufbewahrt und einen knackigen Arsch hat. Reden ist nicht seins, er handelt. Wenn man dabei mit dem Kopf durch die Wand will, kommt man halt nicht dazu, zu viel nachzudenken. (tha)
Privatleben
"Ich muss meiner Tochter ein weiches Ei kochen, und ich krieg das nicht hin." Ein Satz, der vieles sagt über das Privatleben von Tschiller/Schweiger. Der Mann ist alleinerziehend. Und er kann nicht kochen. Nicht nur Eier nicht, auch sonst sieht's eher mau aus. Also gibt's Fast Food und Ärger mit der Ex, die ja gleich wusste, dass er das mit dem gemeinsamen Nachwuchs unmöglich gebacken kriegen kann. Kriegt Tschiller aber doch, auch in echten Krisenzeiten, etwa bei pubertärem Liebeskummer. Da, so lernen wir, helfen vor allem heiße Hühnersuppe und väterlich-warme Trostworte. Bei so viel sozialer Interaktion bleibt für den Rest natürlich kaum Zeit, weshalb sich unausgepackte Umzugskartons in der Wohnung stapeln und ein Motorrad als Deko langsam vollstaubt, statt auf der Straße Kilometer zu machen. Na, es kommen gewiss auch wieder bessere Zeiten. Spätestens wenn die Eierfrage abschließend geklärt ist. (hot)
Der Fall
"Du hast den Kiezfrieden gestört. Geil." Worum es geht, erklärt Wotan Wilke Möhring. TschillerSchweiger hat eine Observation versaut, indem er einige Schlägertypen ausknipste, anstatt es mit etwas menschlicher Ansprache zu versuchen. Und schon waten wir durchs Klischee. Vor Action-Til trutschten die Elb-Wachtmeister nur zahnlos vor sich hin und ließen die hiesigen Großgangster in Ruhe. Aber kaum nietet der Neue aus Frankfurt einige Bomberjackenträger um, wissen wir Bescheid: Der Hamburger Geldadel lässt sich Ostblock-Teenager in finstere Fabrikhallen liefern. Schlimmschlimm, das. Noch schlimmer ist nur, dass Schweigers talentfreie Tochter Luna als Tschillers nervende Tochter Lenny in die Geschichte gelassen wurde. (jomi)
Der Humor
Da lachen ja die Hühner, könnte man mit Blick auf das Leitmotiv sagen: Es geht um Eier in diesem "Tatort". Um Weicheier, die der Tochter des neuen Kommissars Nick Tschiller zu glibberig sind, und männliche Geschlechtsorgane, an denen die Bösen nur knapp vorbeischießen. "Dann mal ran an die Frikadellos", sagt Tschillers auf dem Krankenbett liegender Kollege Yalcin Gümer zur Krankenschwester, wir sagen: Dann mal ran an den Humor, der so platt ist, dass er auf gar keinen Fall als Rampe für kleine Witzraketen taugt, die nicht zwangsläufig bei jedem zünden müssen. Im Zweifel ist das ja oft der feinere und bessere Humor. Aber Til Schweiger ist für alle da, und deswegen, Stichwort männliche Geschlechtsorgane, darf auch die Selbstironie überdeutlich ausfallen. Zum Beispiel beim Kurzauftritt Wilke Wotan Möhrings, dessen erster Tatort noch in diesem Jahr ("Feuer über Flottbek") läuft und auch in Hamburg spielt. Schweiger und Möhring zusammen beim Pinkeln: Das ist schon lustig. Gilt auch für die Lücken im Allgemeinwissen Tschillers, der gewiss kein Schiller ist und das auch weiß: "Ich nuschel ein bisschen." (tha)
Ermittlerteam
Nick Tschiller muss ganz oft "Gell" sagen, damit auch jeder rafft, dass er nicht aus Hamburg kommt. Der Kerl mit der rauen, oft ramponierten Schale ist ein Quiddje. Anders als sein Ermittlerkollege Yalcin Gümer, der Tschiller im norddeutschen Idiom fragt, ob er nicht "'n büsch'n pingelig" sei, weil er seinen alten Kollegen zu früh abschreibt, der vielleicht die Seiten gewechselt hat. Gümer ist ein knuddeliger Typ, er nimmt dem Neuen auch nicht weiter übel, dass er beim ersten Einsatz durch Tschillers etwas forsche Art gleich einen Beinschuss verpasst bekommt. Das ist die Blaupause für alles Weitere, natürlich werden die beiden Pfundskerle künftig für den anderen jeweils durchs Feuer gehen, sie werden die Brandspuren mit vielen gemeinsamen Bieren löschen, und dann und wann wird sich Gümer aufregen, weil Tschiller nix mit ihm abspricht. Merke: Der verwegene Hasardeur erscheint umso kompromissloser, je rechtschaffener und auch ein bisschen trotteliger sich sein Partner anstellt. (tha)
Hamburg-Faktor
"Hamburg soll propper bleib'n, weissu? Touri-City!", sagt Yalcin Gümer nach dem Blutbad, das sein Kollege Tschiller angerichtet hat. Auf die Hamburg-Klischees haben Regisseur Christian Alvart und Kameramann The Chan Ngo zum Glück verzichtet. Kein Blick in die neonerleuchtete Große Freiheit, kein Sonnenuntergang über Blohm & Voss, kein Michel, nur ein bisschen Alster, als Tschiller seine blonde Ex auf der Lombardsbrücke trifft. Dafür jede Menge dunkle Ecken in der City Nord und auf der Veddel. Der Lessingtunnel in Ottensen, wegen seiner Pfeiler und Graffiti eine gern genutzte Filmkulisse, taucht bei diesem "Tatort" genauso auf wie das hafennahe Ende der Davidstraße.
Die spektakulärsten Aufnahmen jedoch liefert dieser "Tatort" von seinem zukünftigen Wahrzeichen, der Elbphilharmonie. Mit dem Hubschrauber wird die Baustelle umflogen, von oben zoomt die Kamera direkt an die strittige Dachkonstruktion heran wie bei einer Dokumentation über den Millionen teuren Zankapfel. Eine der jungen Prostituierten versteckt sich hier und hockt mutterseelenallein auf den Rohbau-Treppen. Arbeiter sind keine zu sehen, der riesige Bau ist völlig verlassen. Zum Ende gibt es Elbphilharmonie und Stadtpanorama bei Nacht aus der Luft. In der Ferne leuchtet das Riesenrad auf dem Dom. Den gibt es nur in Hamburg. (oeh)
Das Männerbild
Wann ist ein Mann ein Mann? Und wann ist ein Schweiger Kommissar? Wenn sein erstes Wort "Fuck" lautet. Wenn er Lederjacke trägt, grimmig guckt und wenn er "Leute totschlagen" kann. Willkommen in Hamburg? Willkommen in der Steinzeit.
Den Schuss ins Bein des Kollegen kommentiert Nick Tschiller mit "Nix passiert!" Ja, klar. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Und ein Tschiller, dessen Gesicht nach 90 Minuten so ramponiert ist wie nach fünf Tarantino-Filmen, ist mindestens so schmerzunempfindlich wie ein Schimanski. Nur bei minderjährigen Schutzbefohlenen (der Tochter, der Prostituierten) wird dieser Jäger mal kurz zum Sammler und bringt Schokocroissants in die Höhle.
Draußen in der harten Welt dann wieder Schwanzvergleich. Mit dem Kollegen am Pissoir. Und mit den Bösen sowieso. Der Pate im Knast zerquetscht Nüsse mit der Hand. Der abtrünnige Partner Tschillers sieht mit Schnauzer und Koteletten aus wie der Hengst aus einem Spaghetti-Western. "Meine erste Regel lautet Kommunikation", sagt hingegen Tschillers Sidekick Yalcin. In diesem Testosteron-Ambiente erscheint er damit wie der Erfinder des Rads. (bir)
Frauenquote
Eine sehr blonde Tochter. Eine sehr blonde Krankenschwester. Eine sehr blonde Ex. Noch eine sehr blonde Ex. Eine (huch: dunkelhaarige!) rassige Staatsanwältin, die Schweiger zwar im Dienstgrad überlegen, aber beim Anblick dieses Kerls natürlich auch nur Frau sein kann: Sie schaut ihm auf den Knackpopo. Da geht noch was, nächste Folge, jede Wette.
Spätestens an dieser Stelle ist ja völlig klar: Im "Tatort" nach der Frauenquote zu gucken, ist totaler Humbug. Kein Grund, es nicht trotzdem zu tun. Also. Eine Quote misst ja zunächst einmal eines: Quantität. Und siehe: Die ersten Frauen, die in diesem "Tatort" auftauchen, sind vergleichsweise viele. Quotenmäßig sind sie den Männern, die bis zu dieser Minute zu sehen waren, zunächst überlegen. Außerdem prügelt und schießt sich Schweiger während der Handlung derart durch das männliche Personal, dass - so rein quotenmäßig - zum Showdown weniger männliche Bösewichte übrig sind als am Anfang. Die Richtung stimmt.
Denn auch Tschillers Ex-Frau ist nach 15 Jahren mal dran mit der Karriere. Neue Zeiten in Macho-Land. Da wird man doch mal von einer blonden Krankenschwester und einer rolligen Staatsanwältin träumen dürfen. Aber bitte. Ist ja nur ein Film. Da zählen am Ende eh andere Quoten. (msch)
"Tatort" 10.3., 20.15 Uhr, ARD