HAMBURG. Sie holen nicht die Wirklichkeit ins Theater, sondern das Theater in die Wirklichkeit: Helgard Haug und Daniel Wetzel von der Theatergruppe Rimini Protokoll inszenieren ihre Stücke nicht mit Schauspielern, sondern mit "Experten des Alltags"- wie sie sagen. Für ihre Produktion über "Das Kapital" von Karl Marx suchten sie mit dem Buch in der Hand Leute, die es ihnen erklären konnten. "Wir kannten es, haben den großen literarischen Text aber ebenso wenig gelesen wie die meisten Menschen", erklärt Haug die Ursprungsidee zum Projekt, das den Mülheimer Dramatikerpreis 2007 erhielt und ab heute auf Kampnagel gastiert.

Haug und Wetzel, Autoren, Rechercheure und Regisseure in einem, haben Spezialisten wie den Wirtschaftswissenschaftler Thomas Kuczynski, den Sohn der roten DDR-Ikone, aufgetrieben. Auch China-Experte Jochen Noth, ein Gründungsmitglied des ZK Kommunistischen Bundes Westdeutschland, ist dabei. Sie stießen auf den Revolutionär Sascha Warnecke, den Glücksspieler Ralph Warnholz und den Betrüger Jürgen Harksen. Der hatte "Superstar"-Sucher Dieter Bohlen um Millionen erleichtert, war mit Flucht und Prozess 2003 Hamburger Tagesgespräch. Die Herren kommen alle persönlich zu Wort. Nur für den inhaftierten Harksen spricht sein Biograf, der Autor und Coach Ulf Mailänder.

"Mich hat Rimini Protokoll angesprochen, weil ich zwei Bücher über Wirtschaftskriminelle geschrieben habe, über den Baulöwen Jürgen Schneider und eben Harksen", erzählt Mailänder. In der Haftanstalt Fuhlsbüttel hat er ihn interviewt und in Absprache mit ihm geschrieben. 2006 erschien das Buch "Wie ich den Reichen ihr Geld abnahm". Nach einer 1986 unterbrochenen Redakteurs- und Herausgeber-Karriere in Berlin steht der 51 Jahre alte Autor und Berater in Berufs-, Geld- oder Persönlichkeitsfragen nun auch noch auf der Bühne. "Zuerst wusste ich gar nicht, dass es auch um ein Casting ging."

Ein typischer Theaterlaie, aber ein Lebensspezialist, wie Haug und Wetzel sie anstelle von Profi-schauspielern bevorzugen. Außerdem beschäftigt sich Mailänder wie die beiden mit den Biografien anderer Menschen, fühlt sich in diese ein, ist sozusagen ein "Empathiebeauftragter", wie er sagt. Der biografische Ansatz spielt eine zentrale Rolle in der prozesshaften Stück-Entwicklung von Rimini Protokoll. "Ob es sich um einen Text handelt oder ein Ereignis wie die Wende. Wir überschreiben es durch Biografien, beleuchten es anhand von Berufen und Einzelschicksalen." Darin liegt Rimini Protokolls geniale Lösung des dialektischen Widerspruchs, Theater zu zeigen, aber keins vorzuspielen.

"Unsere Akteure wissen, warum sie auf der Bühne stehen, wovon sie reden." Die Texte mit den Profis in eigener Sache entstehen in langen Gesprächen, werden von Haug und Wetzel mitgeschrieben und bei den Proben überarbeitet, sodass diese Authentizität und Sicherheit im demonstrierenden "Spiel" entsteht.

Haug und Wetzel sehen sich außerhalb des Theaters. "Wir haben nichts dagegen, mit den Institutionen zu kooperieren, doch wir wollen den Begriff Theater erweitern, es für Leute öffnen, denen es suspekt ist, und sie über interessante Inhalte ansprechen und fesseln."

  • Das Kapital, Band eins 30.11.- 2.12., 20 Uhr, Kampnagel, T. 27 09 49 49.