Die Britin Nina Raine hat mit ihrem Familiendrama “Sippschaft“ Premiere am Ernst-Deutsch-Theater. Sie selbst entstammt einer Literaten-Familie.
Hamburg. Nina Raines drittes Theaterstück "Sippschaft" ("Tribes") ist offenbar ein Glückstreffer. In ihrem schonungslosen Porträt einer großmäuligen Akademikerfamilie mit dem gehörlosen Jüngsten Billy konfrontiert die englische Autorin zwei Welten der Kommunikation: die des in seinem Kosmos lebenden isolierten stillen Jungen und jene der auf die Sprache und das Wort fixierten Intellektuellen - allen voran Billys dominanter Vater und Literat Christopher.
"Tribes" kam im Oktober 2010 am Londoner Royal Court Theatre heraus. Ein Jahr später zu Weihnachten in Budapest und 2012 folgten Aufführungen in Melbourne, Neuseeland und New York, wo David Cromer am Barrow Street Theater das Stück inszenierte. Nun bringt das Ernst-Deutsch-Theater die deutschsprachige Erstaufführung, überhaupt die erste eines Schauspiels der mehrfach ausgezeichneten Dramatikerin, in Peter Hailers Regie. Am 23. August ist Premiere mit Eyk Kauly (Billy), Theresa Rose (Schwester Ruth), Carsten Klemm (Christopher) und Intendantin Isabella Vértes-Schütter in der Rolle der Mutter Beth.
Nina Raine kommt von einer Probe und empfängt sichtlich entspannt und zufrieden in der Bibliothek des Hotels The George. "Ich habe es genossen zuzuschauen", erzählt sie. Was etwas heißen will, denn naturgemäß sind Autoren skeptisch und besonders kritisch, wenn es um ihr "Baby" geht. "Die Besetzung der Rollen ist auf den Punkt, und der Text scheint auf Deutsch sehr gut zu fließen." In ihren Ohren klinge er sogar fast wie Englisch. Doch wohl nur, weil sie ihn so gut kennt? "Wissen Sie was, er klingt so gar noch ein bisschen besser", antwortet sie lachend. "Klingt irgendwie eindrucksvoller für mich."
Auch der Regisseur Hailer beeindruckte Raine. "Er scheint mir so schnell und instinktiv ganz richtig zu handeln, er ist wohl ein Perfektionist", vermutet sie. Dieses Lob gilt doppelt, denn die Dramatikerin ist auch eine Kollegin. Sie inszenierte ihr erfolgreiches Debüt "Rabbit" (2006), aber auch Alia Banos "Shades" und aktuell für das Royal Court den Mutter-Tochter-Clinch "Jumpy" von April De Angelis am Duke of York's Theatre.
Amüsiert beschreibt sie den inneren Konflikt beim Zuschauen. "Als Autorin denke ich beispielsweise, dass nicht richtig ist, was da gerade passiert. Am liebsten würde ich direkt reinspringen und sagen: Lasst es uns anders machen, ich habe es mir so und so vorgestellt." Aber die Regisseurin weiß nur zu gut: Beim Probieren geht es darum, Geduld zu haben, die Schauspieler machen zu lassen. "Sie müssen es nochmals und nochmals versuchen, man kann jedes Mal nur ein Detail herauspicken und korrigieren und nicht 30 zugleich."
Beim Schreiben eines Stücks denkt sie allerdings nicht ständig daran, wie sie es inszenieren würde. "Natürlich würde ich nicht schreiben: ,Erste Szene, sie sprechen im Swimmingpool'. Ich weiß einfach, dass das schwierig wäre, genauso wie ein Cast mit 100 Schauspielern. Jemanden nur für einen Scherz auftreten zu lassen, das hieße für mich, Scheiße zu schreiben." Die 36 Jahre alte Oxford-Absolventin mit summa cum laude benutzt tatsächlich die grobe Sprache ihrer Sippschaft. "Ich denke auch mal, ich könnte eine Figur einsparen, wenn ich deren Charakterseite einer anderen hinzufüge. Sicherlich habe ich unbewusst solche Probleme im Kopf, um ein Stück realistisch auf die Bühne bringen zu können. Aber Beschränkungen können es auch reicher und stärker machen."
Nina Raine stammt aus einer Literatenfamilie, wie sie sie in "Sippschaft" beschreibt. Ihr Vater Craig Raine ist ein sehr bekannter englischer Dichter, Essayist, Kritiker sowie Gründer und Herausgeber des Literaturmagazins "Areté". Er lehrte wie ihre Mutter, eine Großnichte des russischen Schriftstellers Boris Pasternak, in Oxford. Ihr Pate ist niemand Geringerer als der Romancier Julian Barnes.
In "Sippschaft" zeigt sie auch den hohen Druck und intellektuellen Anspruch der Eltern an ihre Kinder. "Zweifellos habe ich Züge von ihnen verwendet, aber ich bilde sie nicht einfach ab. Ich habe auch keinen gehörlosen Bruder." Allerdings war einer ihrer Brüder Legastheniker und als Kind ähnlich wie Billy ein stiller Zuhörer. "Vater Christopher vertritt eine harte Linie, was Sprache betrifft", erklärt Raine. "Er argumentiert aus extremer Position: Wie kannst du etwas über die Vater-Tochter-Beziehung wissen, wenn du 'König Lear' nicht gelesen hast oder über sexuelle Eifersucht, wenn du 'Othello' nicht kennst?" Erst Sprache und Kunst lehrten, richtig zu sehen und Gefühle zu artikulieren, ist Christophers elitäre Ansicht. Ähnlich der Oscar Wildes: Wie kann man einen Sonnenuntergang genießen, ohne William Turners Gemälde gesehen zu haben.
Für Nina Raine, Schwester von drei jüngeren Brüdern, war es nicht einfach, ihren Weg zu finden. Sie begann früh zu schreiben, doch richtungsweisend wurde ein Theatererlebnis: "Ich war zehn oder elf und begegnete bei den Festspielen in Glyndebourne dem Theater und Regisseur Peter Sellars, der eine Oper inszenierte, zu der mein Vater das Libretto geschrieben hatte. Ich in meinem weißen Spitzenkleidchen war von diesen verrückten Leuten und ihrer Welt total fasziniert." Als Literaturstudentin in Oxford inszenierte sie Studentenaufführungen, schrieb auch erste kleine Stücke. Zum zweiten Wegweiser wurde die Mutter. "In meinem Auslandsjahr reiste ich durch Italien und schrieb Mutter regelmäßig Briefe. In einem schilderte ich das Gespräch zweier Mädchen im Zug von Florenz nach Rom. Sie fand den Dialog toll geschrieben und ermutigte mich, doch Theaterstücke zu schreiben."
Tatsächlich sind Raines Stärke der direkte, pointierte Dialog und realistische Charaktere, die nicht künstlich verfremdet sind, aber doch dramatisches Potenzial in ihrer Überhöhung und der szenischen Situation entfalten. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, dass ein Literatenkind und eine Meisterin des gesprochenen Wortes in ihrem Schauspiel zwar humorvoll, doch ernsthaft zur Diskussion stellt, dass Sprache - auf der Bühne wie im Leben - nicht das Nonplusultra ist und Schweigen oft beredter sein kann, als es lautstarke, spitzfindige Verbalgefechte sind.
"Sippschaft" Deutschsprachige Erstaufführung Do 23.8., 19.30, Ernst-Deutsch-Theater, Karten unter T. 22 70 14 20; www.ernst-deutsch-theater.de