Für den Chinesen Tan Dun gibt es da keinen Unterschied. Mit seiner neuen Kreation gastiert der glühende Bach-Verehrer in der Laeiszhalle.
Laeiszhalle. Der Barock-Kollege Johann Sebastian Bach, berühmt für sein Kreativtempo unter Zeitdruck, hätte seinen Musikern auf die Schnelle nur hektisch aufs Papier geworfene Noten bieten können. Heutzutage ist man deutlich weiter, denn dank Computersatz sieht jedes Stück schnell perfekt gesetzt aus. Ein Problem jedoch, mit dem Bach ständig zu tun hatte, bleibt auch heutigen Komponisten wie dem Chinesen Tan Dun leidvoll erhalten: Es muss einem rechtzeitig vor dem Uraufführungstermin genügend einfallen, sonst hat man ein Problem.
Vor diesem Dilemma stand Tan, der an diesem Sonnabend im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals den Hamburger Bach-Preis entgegennimmt, vor anderthalb Wochen, als ihm der Percussion-Virtuose Martin Grubinger für das Konzert mit dem NDR Sinfonieorchester in der Laeiszhalle wegen einer Muskelverletzung abhanden kam.
+++ West-östlich klingende Beziehungskiste +++
Nach wildem Herumtelefonieren in der Branche und einigen Absagen kam der Organist Cameron Carpenter als Last-Minute-Ersatz ins Spiel, der Zeit hatte. Von dem Amerikaner aus Berlin, der gerade den Bernstein Award erhielt, hatte der in New York lebende Globetrotter Tan schon Tolles gehört, "ich hatte ihn aber noch nicht getroffen, und mit Orgeln kenne ich mich auch nicht so richtig gut aus", die Scheu vor den Spielregeln und Möglichkeiten saß tief.
Aber - wer nicht wagt und so weiter, also setzte sich Tan, neugierig und abenteuerlustig, in den Zug nach Berlin und traf sich vor knapp einer Woche mit dem Register- und Pedal-Derwisch in der Paris Bar. Auf deutlich mehr als nur einen Wodka, wie Tan, sehr amüsiert, in seiner Laeiszhallen-Probenpause berichtet. Aber Zweck und Zeitdruck heiligten die hochprozentigen Hilfsmittel, etwa einen Tag später stand nicht nur das Gerüst der Hommage für das große Idol Bach, sondern, voilà, das ganze Stück. Schwarz auf Weiß, sauber gesetzt auf dem Notenpapier. Der Verleger hatte Nachtschichten geschoben. Na bitte, geht doch.
Wie lang es sein wird? "Vielleicht zehn bis 13 Minuten", schätzt Tan und lacht, was kommt, kommt, soll das heißen. Vorkommen werden unter anderem viele improvisierte Passagen; Carpenter wird nicht nur Hände und Füße, sondern auch seine Stimme einsetzen, kündigt Tan an. Andere Passagen bezeichnet Tan als "Moskito-Bach", "Buddha-Bach", "Wasser-Bach", "Wind-Bach", "Rap-Bach". Man wäre wirklich gern dabei gewesen bei diesem Arbeitstreffen in der Berliner Bar.
Dass Tan, der große Bach-Bewunderer, der immer wieder Bach-Zitate als Verbeugung in seine Stücke einflicht, nun einen Bach-Preis erhält, hat für ihn nichts mit Prestigegewinn zu tun. Darum geht es ihm nicht bei dieser Auszeichnung. "Dieser Preis ist für mich der spirituellste", sagt er, und wird dann doch wieder ernst. Bachs Musik war nach dem Ende der Kulturrevolution, die diese Musik verdammt und deren Genuss drakonisch bestraft hatte, für ihn und viele andere eine Art ästhetisches Erweckungserlebnis. Es gibt eine andere, eine zeitlos bessere Welt, klang da mit, eine Welt, in der es Menschlichkeit gab. Bach war für ihn wie Medizin, sie wirkt und heilt bis heute. Kontrapunkt-Kunst ist für Tun nicht nur auf ein Stück, auf einen Stil beschränkt, er verschränkt gern unterschiedliche Elemente, die seiner Meinung nach spirituell zusammengehören.
Es gibt aber auch eine weniger bekannte Gemeinsamkeit von Tan und Bach: die Freude am Bratschenspiel. "Ein Komponist" - wer, will Tan gerade nicht einfallen - "hat einmal gesagt: Wenn du keine gute Bratschenstimme schreiben kannst, bist du ein dummer Komponist." Deswegen gibt er sich bei den Viola-Passagen immer besonders große Mühe, sicher ist sicher.
Möglicherweise haben auch Tans New Yorker Begegnungen mit dem Avantgarde-Schamanen John Cage dazu beigetragen, dass er mit dem Begriff "Ehrgeiz" nichts Rechtes anfangen kann. "Wettbewerb mit anderen, das mag ich nicht. Das Leben besteht aus Musik. Musik ist mein Leben."
Der nächste Abschnitt in Tans Leben hat, zumindest oberflächlich, weder mit Bach noch mit Orgeln zu tun. Es geht um eine musikdokumentarische Symphonie über eine alte Sprache, die nur noch wenige alte Frauen in einer abgelegenen Region Chinas sprechen.
Moderne Medien-Technik soll dabei zum Einsatz kommen; Traditionen und diese Hightech-Methoden sind also ebenfalls Gegensätze, die sich ergänzen können. Seit drei Jahren schon arbeitet Tan daran. "Ich lasse mir gern Zeit beim Kochen", ist sein Kommentar. "Ich bin ein guter Koch, sowohl in der Musik als auch mit Essbarem. Warum nicht italienische Spaghetti mit einer vietnamesischen Bohnensoße? Warum nicht Bagel mit Frischkäse, Bitterorangenmarmelade und Käsestreuseln? Alle Komponisten müssen gut kochen können. Es geht doch immer darum, etwas Neues zu erschaffen."
Konzerte Sa 18.8., 20 Uhr, Laeiszhalle / So 19.8., 19 Uhr, Deutsches Haus Flensburg. Prokofiew: "Romeo und Julia" (Auszüge) / Tan Dun: "Symphonic Poem on 4 Notes: B-A-C-H für Orgel und Orchester" / J.S. Bach: Fantasie (Präludium) und fuge g-Moll BWV 542 / Tan Dun: "Death and Fire. Dialogue with Paul Klee". Infos zu Restkarten unter T. 0431/23 70 70; Internet: www.shmf.de