“Wir konnten unser Glück gar nicht fassen“: Für einen Auftritt beim Wacken Open Air flog eine indische Metal-Band vom Ersparten um die halbe Welt.
Wacken. Sidharth Kadadi schaut etwas skeptisch aus der bis zum Kinn zugezogenen Allwetterjacke. Dass es beim Wacken Open Air (WOA) massiv regnet und sich das Areal in eine von kleinen Seen durchzogene Schlammwüste verwandelt hat, macht ihm zwar nicht viel aus. Schließlich ist in seiner Heimat Mumbai gerade Monsun-Zeit. Aber diese Kälte ... Zu Hause sind jetzt 30 Grad. Im Schatten. Hier hat es gerade mal knappe 20, abends deutlich weniger. Trotzdem möchte der Gitarrist der indischen Band Zygnema nirgendwo anders sein. Für ihn und seine drei Freunde sind diese Tage beim größten Metal-Festival der Welt ein Traum. Einer, den sie selbst erfüllt haben, für den allerdings auch maximaler Einsatz notwendig war.
+++ Festival-Chef Thomas Jensen: "Wir müssen das erst einmal verarbeiten" +++
In Indien hat das Quartett schon einigen Erfolg, spielt in Klubs vor immerhin 300 bis 400 Fans, wurde von der dortigen Ausgabe des "Rolling Stone" im vergangenen Jahr zur Band des Jahres gekürt und trat sogar beim international beachteten "Metal Asylum"-Festival in Dubai auf. Alles wichtig, alles toll, aber mit Wacken nicht zu vergleichen. Dabei war der Weg hierher, in die schleswig-holsteinische Provinz, lang. Überall auf der Welt finden vor dem WOA sogenannte Metal Battles statt, Talentwettbewerbe mit der Maxime "Es kann nur einen geben" - auch in Indien mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern. Nachdem Zygnema den Vorausscheid in Mumbai gewonnen hatte, ging es zum All-India-Finale nach Bangalore, wo sie die Jury überzeugten und überglücklich den Hauptpreis in Empfang nehmen durften: ein Auftritt beim Wacken Open Air.
"Wir konnten unser Glück gar nicht fassen", erzählt Sänger Jimmy Bhore, der sein Geld eigentlich als Veranstaltungstechniker verdient und sich für die Reise nach Europa nicht nur freigenommen hat, sondern gemeinsam mit seinen Kollegen Ravi Satpule (Bass), Mayank Sharma (Schlagzeug) und Sänger Jimmy Bhore kurzerhand entschied, die Bandkasse bis auf die letzte Rupie zu plündern, um den Wacken-Trip finanzieren zu können. Denn: Wer hier als Metal-Battle-Sieger die Gelegenheit für einen Kurzauftritt erhält, bekommt kein Geld. Im Gegenteil, er muss noch welches mitbringen, also Anreise und Verpflegung selbst bezahlen. "Für uns war trotzdem immer klar, dass wir das machen", sagt Ravi Satpule, der daheim als Grafikdesigner arbeitet und übers ganze Gesicht strahlt, weil er im Backstage-Bereich gerade seine großen Helden, die Thrash-Metal-Stars Sepultura, getroffen hat.
+++ Wacken 2012 im Festival-Blog +++
"Viele Konzertveranstalter und Bandpromoter sind in Wacken", weiß der 28-Jährige. "Vielleicht interessiert sich ja einer für uns und wir kommen demnächst für eine richtige Tour nach Deutschland." Dafür lohne es sich unbedingt, ein komplettes Jahreseinkommen zu investieren. Auch weil in Wacken die Internationale der Metal-Battle-Sieger noch einmal antritt, um den Jahres-Weltbesten zu ermitteln. Dem winkt dann u. a. ein Plattenvertrag beim Branchenriesen Nuclear Blast.
Was Zygnema angeht: Die 20-minütige Show der Band kommt gut an. So gut, dass die Musiker hinterher voller Euphorie beginnen, die zwei mitgebrachten Bierkästen zu leeren und sofort auf ihrer Facebook-Seite posten, sie hätten gerade "den großartigsten Auftritt ihrer Karriere" hingelegt. Alles, was danach folgt, ist für die Jungs, die wie im Traum durch dieses Paradies für Metalheads wandeln, Bonus, ist musikalischer Abenteuerurlaub und maximale Wunscherfüllung zugleich. Freudig verschenken sie Exemplare ihrer Debüt-CD "Born Of Unity" und können es kaum erwarten, Lieblingsbands wie Testament oder Opeth, die es nie bis Mumbai schaffen, endlich einmal live zu sehen. Da stört weder der inzwischen mächtig müffelnde Schlamm, der jeden Weg über das Gelände zur Geschicklichkeitsprüfung werden lässt, noch der wie aus dem Nichts einsetzende Starkregen während des Auftritts der Scorpions.
+++ Das Wacken-Festival versinkt im Schlamm +++
Jimmy Bhore und Co. wissen inzwischen, dass sie es nicht aufs Treppchen geschafft haben, der Sieger der Metal Battle 2012 heißt Hamferd, spielt melancholischen Doom Metal und kommt von den Färöern. Enttäuscht sind die Inder trotzdem nicht. "Das waren die aufregendsten Tage unseres Leben", sagt Sidharth Kadadi, als er sein nasses Ein-Mann-Zelt zusammenpackt, um mit seinen Band-Kumpels noch ein paar Tage Deutschland-Urlaub dranzuhängen. "Wir wollen nach Berlin, den Reichstag und das Brandenburger Tor anschauen." Danach geht's zwar nach Mumbai, ins gewohnte Leben, in die alten Jobs, aber wer weiß: Vielleicht hat Zygnema tatsächlich den ersten Schritt in eine internationale Metal-Zukunft gemacht und es gibt ein Wiedersehen. Am liebsten natürlich in Wacken, wo in einem Jahr, vom 1. bis 3. August, die nächste Heavy-Metal-Party gefeiert wird - unter anderem mit Deep Purple, Nightwish und Subway To Sally. Der Vorverkauf hat heute Nacht um 0.01 Uhr begonnen. Wer eine der begehrten Karten ergattern will, darf sich nicht viel Zeit lassen. Oder muss rechtzeitig eine Metal-Band gründen.