Wohin man auch schaut, es regiert die Performance. Oder: Warum es immer weniger Spaß macht, ins Theater zu gehen. Eine Streitschrift.

Man kommt nicht umhin, darüber zu klagen, dass es heute weniger Spaß macht ins Theater zu gehen als, sagen wir, vor zehn oder zwanzig Jahren. Und das hat nichts mit einer Berufskrankheit zu tun, wie sie beispielsweise den Esskritiker ergreift, der sich unmöglich noch darauf freuen kann, das 500. Schnitzel seines Lebens testen zu müssen oder eine weitere Portion zerkochten Gemüses.

Das Theater lebt heutzutage - jedenfalls da, wo es stilprägend sein will - von Performances und Projekten. Aufführungen also, bei denen ein Text nicht mehr nur sinnlich, treffend und genau ergründet und durch die Kunst und Fähigkeiten eines Schauspielers zum Leben erweckt wird. Sondern es geht um Konzepte. Dramen und Stücke werden nicht mehr gradlinig, mit traditionellen Mitteln nacherzählt, man reichert sie an mit Fremdtexten, sucht Schnittmengen zu Musik, Film, bildender Kunst. Anstelle der Konzentration auf das Drama, der Darstellung von Figuren, Handlungen und menschlichen Beziehungen rückt hier die "Aufführung" in den Mittelpunkt. Häufig können die Zuschauer nicht ähnlich assoziativ nachvollziehen, was die Künstler und zu welchem Zwecke bewegt. Die Folge: Man fühlt sich ausgeschlossen, empfindet die Kunst als elitär, arrogant, autistisch und fragt sich, ob manch ein Konzeptionsregisseur mit seinem Team nicht in einer Parallelwelt lebt, ohne Berührungspunkte zu den Zuschauern. Kümmert sich das Theater vielleicht zu wenig darum, seine Zuschauer zu fesseln, anzusprechen und zu unterhalten? Ist das Theater nicht gerade dazu da, Stücke, die man beim Lesen allein nicht in ihrer ganzen Vielschichtigkeit durchdringen kann, verständlich zu machen? Doch fürs Theater gilt immerhin auch dasselbe wie für den Film, die Literatur oder die Malerei: Künstlerische Arbeit darf sich nicht ausschließlich am Publikum orientieren. Aber eben gewiss auch nicht an ihm vorbei. Nicht allein das Publikum bestimmt, was Qualität ist.

Man wird nicht mehr vorgeführt, man wird mit Besserwisserei konfrontiert

"Kleist, Büchner, Hebbel, Hauptmann, Brecht, Jelinek, all diese Autoren haben das Theater vor das Unmögliche gestellt", sagt Joachim Lux, Intendant des Thalia-Theaters. "Es musste erst mal versuchen, damit zurechtzukommen." Neues, Unerhörtes, nie Gesehenes oder Erschütterndes kann eben nur geschehen, wenn man es ausprobiert. Allerdings darf die ständige Erinnerung daran, dass unsere Welt widersprüchlich, verstörend und verroht ist, auch nicht dazu führen, dass dies mantraartig auf der Bühne hergebetet und illustriert wird. Und damit zu Ermüdungserscheinungen bei den Zuschauern führt, weil sie nicht mehr im besten Sinne verführt werden, sondern nur noch mit Besserwisserei konfrontiert.

"Ich bekomme mit zunehmendem Alter mehr Ehrfurcht vor dem Text. Vielleicht sollte man Stücke wieder komplett spielen", hat Nicolas Stemann in einem Gespräch vor fünf Jahren im Abendblatt erklärt. Stemann, einer der meistgefragten deutschen Regisseure, hat dem Thalia-Theater Erfolge wie "Die Räuber", "Ulrike Maria Stuart" oder "Die Kontrakte des Kaufmanns" eingebracht und wird dort im Herbst "Faust I und II" herausbringen. Seine Inszenierungen sind, wie so viele im deutschen Theater heute, artifizielle Performances, die ein kollektives Schaffen abbilden, Experimente, Improvisationen, die musikalischen Strukturen folgen.

Zeitgenössische Regisseure sehen sich immer seltener in der Rolle der gehorsamen Theaterdiener, die klassische, wohlgesetzte Worte illustrieren, um den Zuschauern dann eine Moral mit nach Hause zu geben. Kunst ebenso wie das Denken und Vorstellen wird zu einem Spielfeld, auf dem die Mitspieler sich austauschen, in das jeder Ideen einbringt. Regisseurtheater, bei dem Regisseure gerne dafür gescholten wurden, dass sie die künstlerische Freiheit dazu missbrauchten, sich selbst und ihre Meinung ins Zentrum zu setzen, war gestern. Heute regiert das Projekt, die Performance. Geschichten werden nicht mehr nur erzählt. Das performative Theater erstellt Konzepte zwischen freier Improvisation und choreografierter Inszenierung, ohne ganz direkt auf etwas zu verweisen oder es gar zu erklären. Die Zuschauer werden nicht zur Identifikation eingeladen. Sie sollen ihre Ideen gefälligst selbst entwickeln. Theater ist kein Entertainment. Subvention ist Geld für den Widerspruch. Sich einer "Gegenwart zu vergewissern, die unsicher geworden ist, deren Vertrautheit schwindet", so der Chefredakteur von "Theater heute", sei "durch nichts so überzeugend darstellbar wie durch sich selbst". Und Theaterkritiker wie Gerhard Stadelmaier wettern dagegen, Theater sei inzwischen oft "die Fortsetzung des Programmhefts mit anderen Mitteln".

Sind die Theatermacher müde geworden, den dramatischen Kanon zum x-ten Male neu und aufregend zu interpretieren, und erstellen deshalb lieber Konzepte, in die auch andere Texte einfließen? Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" sprach unlängst von "lüsternen Theateruntergangsfantasien, die arrogant und selbstgefällig daherkommen". Differenzierte Menschendarstellung ist derzeit wenig gefragt. Geist, Mentalität, Sprache als Quintessenz des Bühnengeschehens - einverstanden. Leider kann man auch die zu einem Projekt verwursten. Schlimmstenfalls. Statt sie von Schauspielern gestalten zu lassen. Dass man Sinnlichkeit im Theater braucht, daran aber kann kein Zweifel bestehen.

Freuen wir uns also auf die kommende Spielzeit? Freuen wir uns.

Eine Replik von Thalia-Intendant Joachim Lux

Kultur in Hamburg: Wir sind weder elitär noch autistisch

Die These, dass das Performative regiert im Theater, möchte ich grundlegend bestreiten. Jedenfalls in Bezug auf das Thalia-Theater. Wir hatten in den vergangenen Monaten Aufführungen wie "Hamlet", "Woyzeck", "Don Carlos", "Nathan" - um nur die Klassiker zu nennen, die beim Publikum funktionieren und auch verstanden werden. Wir sind weder elitär noch autistisch oder arrogant, sondern offen, erlebnishungrig und kommunikativ. Wenn es dennoch gelegentlich Probleme gibt, dann deshalb, weil sich die Sprache der Hochkultur, die unserer Autoren Schiller, Goethe oder Büchner, nicht immer auf den ersten Blick erschließt.

Bestreiten möchte ich außerdem, dass das Performative der Grund allen Übels und an und für sich elitär und arrogant ist. Da werden Teufel an die Wand gemalt, die es gar nicht gibt. Wenn der theaterinteressierte Zuschauer nach Berlin, Zürich, Frankfurt, Wien oder München fährt, sieht er, genauso wie am Thalia-Theater, in aller Regel Aufführungen, die der Sehnsucht, Geschichten mit Menschen sehen zu wollen, entsprechen. Wer das Gegenteil behauptet, liegt falsch.

Aber natürlich ändert sich das Theater seit Jahrhunderten, und das ist gut so. Shakespeare hat ordinäre Clownsspiele in die Hochkultur geschmuggelt, die Commedia dell'Arte war lustig, ohne Menschen tiefer auszuloten. Richard Wagner hat das Gesamtkunstwerk mehr gewollt als die Menschendarstellung, Hauptmann hat die Arbeiter auf die Bühne gebracht, Max Reinhardt die Massen, Elfriede Jelinek hat das Theater auf ihre Weise radikalisiert.

Bei diesen Revolutionierungen muss die Kunst ein labiles Gleichgewicht zwischen zwei Bewegungen suchen: Einerseits hört Kunst meist auf, wenn sie sich zu marktgängig dem Publikum vor die Füße wirft. Andererseits ist sie schwer gefährdet, wenn sie auf das Publikum überhaupt keine Rücksicht mehr nimmt. Dazwischen liegt irgendwo die Wahrheit. Eines aber steht fest: Die Qualität von Kunst leitet sich nicht ausschließlich vom Publikum ab. Wenn eine Emil-Nolde-Ausstellung mit großem Erfolg schwarze Zahlen schreibt, ist sie deswegen nicht mehr wert als die monochromen Farbflächen von Mark Rothko oder die PopArt von Rauschenberg.

Mir ist in der gesamten Debatte zu viel Politik und Ideologie im Spiel. Ich habe schon sterbenslangweilige psychologische Kammerspiele mit Menschendarstellung gesehen und wunderbare Performances, und natürlich auch umgekehrt. Einer der Erfinder eines großartigen Bilder- und Musiktheaters, der im Übrigen dem Thalia gigantische Publikumserfolge beschert hat, war Bob Wilson. Aber er passt nicht in die Theorie. Ein Zweiter, er passt ebenfalls nicht in die Theorie, ist Christoph Marthalers Wirken am Schauspielhaus.

Und ein Dritter ist Nicolas Stemann. Hamburg kann auf die Innovationskraft dieser Künstler, die sich alle drei deutlich mit Hamburg verbinden, stolz sein! Umgekehrt will ich nicht verschweigen, dass natürlich nicht jede modegetränkte "installative Intervention im urbanen Raum", wo man in unerträglichem Soziologen-Kuratorensprech gemeinsam das Biotop einer Kleingartensiedlung bereist, etwas Besseres ist als eine sinnvolle "Woyzeck"-Aufführung.

Damit wir uns aber jetzt nicht vorschnell im gleichen Boot wiederfinden, muss ich doch darauf bestehen, dass das Kriterium für eine gute Aufführung nicht ist, ob sie psychologisch ist, auch nicht, ob sie mal anstrengend für den Kopf ist, auch nicht, ob sie performativ ist, sondern ob es gelingt, ihre Notwendigkeit zu transportieren, sinnlich, verführerisch, für Kopf und Herz.

Das aber kann sich auf verschiedenste Weise ereignen. Wenn z. B. Luk Perceval vor zehn Jahren neun Stunden lang Shakespeares "Schlachten" inszenierte oder jetzt seine "Hamlet"-Inszenierung von Amsterdam bis Peking auf Zustimmung stößt und die Menschen beim Gastspiel in München mit Pappschildern "Suche Karte" bis weit auf die Maximilianstraße stehen, hat der Regisseur offenbar eine universale Sprache gefunden. Und wie ist es zu erklären, dass es Menschen aus dem Kulturbereich gibt, die bereits sechs Mal (!) in Jette Steckels "Don Carlos" waren? Wenn Nicolas Stemann am Thalia sein performatives Theater macht und mit Aufführungen wie den "Räubern", "Nathan der Weise", "Kontrakte des Kaufmanns" u. a. beim Publikum großen Erfolg hat und wir diese Stücke zum 40. oder 50. Mal spielen, zeigt das, dass sein Theater vital und lebendig ist.

Die Gleichung Performance = Avantgarde = verkopftes Theater = Zuschauerschwund = wenig Theater ist falsch. Sie selbst, verehrte Frau Seegers, haben in vielen Ihrer Kritiken das wilde, kraftvolle Theater von Nicolas Stemann mit all seiner Spielfreude und Anarchie beschrieben. Wenn ein Stemann mit seinem über Jahre entwickelten performativen Theater dann von Anderen auf fragwürdige Weise imitiert wird, führt dies zu einer Inflationierung der Mittel, für die er nicht verantwortlich ist. Kurz: Es führen viele Wege nach Rom, nur nicht der der Ideologie. Was wir brauchen, ist ein produktives, lustvolles Spannungsverhältnis zum Zuschauer, nicht zu weit weg, aber auch nicht auf seinem Schoß sitzend.

Ich bin nicht sicher, ob eine solche Sommer(loch)debatte die Leser interessiert. Aber ich gehe davon aus, dass sie sich für Goethes "Faust" interessieren. Der Text gilt immer noch als d a s dramatische Zentralwerk unserer Kultur. Und Faust, den Nicolas Stemann gerade am Thalia-Theater probiert, ist ein exorbitant gutes Beispiel für die Debatte. "Faust I" hat Goethe aus dem Volksstoff genommen, er wollte offenbar - begeistert vom naiven Puppenspiel - das Volkstheater für seine Zeit retten. Jahrzehnte später schreibt Goethe als alter Mann seinen "Faust II", eine Grenzüberschreitung ohnegleichen, eine Maßlosigkeit ohne Ende, die allein durch die Dauer große Schwierigkeit bietet. Und wie geht das auf dem Theater? Mal ist es Drama, mal Poesie, mal Lyrik, mal wird die Geschichte von Faust verfolgt, mal aus dem Auge verloren. Tausende von mythologischen Bezügen, die sich nicht erschließen. Wer behauptet, er verstünde alles, lügt.

Was soll das Theater damit anfangen? Die Komplexität des Textes volksschulhaft runter- und kleinrechnen? Wie könnte eine Umsetzung gefunden werden, die heute begreiflich ist? Die besten Autoren haben - und da ist Goethe ein gutes Beispiel - das Theater vor das Unmögliche gestellt. Jeder auf seine Weise. Und das Theater musste erst mal versuchen, überhaupt damit zurechtzukommen. Das Publikum auch.

Entscheidend ist, dass Theater sinnlich ist - auf welchem Weg auch immer. Das kann Musik sein, Kostüme, Licht, Gesänge, Arrangements, es kann alles Mögliche sein. Und wenn das passiert, springe ich über jede Klippe. Dann sage ich: Ich hab zwar in dieser halben Stunde nichts verstanden, aber es war rauschhaft schön. Hoffen wir, dass Stemann dies mit "Faust I" und "Faust II" gelingt. Das Publikum scheint uns zu vertrauen: Alle Aufführungen bei den Salzburger Festspielen sind restlos ausverkauft und auch der Vorverkauf in Hamburg läuft sehr gut. Man kann dem Publikum offenbar trauen: Es will auch das Besondere, das Lange und Entschleunigte, das Kompliziertere.

Liebe Frau Seegers, ich glaube, wir sind uns unterm Strich sowieso einig. Denn Sie wie ich wollen kein Theater, das sich vor der Öffentlichkeit verschließt, im Gegenteil, es muss offener werden, sich für unsere Gesellschaft interessieren, stören, erheitern, anregen.

Trotzdem wirkt Ihr Artikel - 500 Schnitzel hin oder her - auch ein ganz bisschen nostalgisch. Das sind viele von uns. Aber: Die alten Zeiten sind perdu, und vor allem: Wir haben nur uns, in der Gegenwart des Jahres 2011. Und die ist aufregend genug, um sich ihr jung und frisch zu stellen. Wenn das Theater gut ist, trägt es dazu bei. Damit es wirklich gut ist, braucht es tatsächlich auch eine Parallelwelt der Künstler. So ist das seit Jahrtausenden. Ihr Blick bleibt ein bisschen fremd. Diesen fremden Blick von außen, der unterhält, ärgert, anregt und provoziert, haben sich Herrscher und Könige früher teuer an ihren Hof gekauft: Narren, Spielmacher, Musiker. Sie liefern den Spiegel, ohne den die Gesellschaft erblindet. Das ist übrigens jenseits von Umwegrentabilität und anderen Schauerlichkeiten der tiefere Sinn der Subvention.