Das Finale naht und in der Abendblatt-Redaktion wurde diskutiert: Ist die Show ein Spiegel des Lebens - oder ein Grund zum Fremdschämen?

Diesen Sonnabend um 22.15 Uhr beginnt das Finale von "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!" Schade finden das die einen, andere sehnen den Tag seit Wochen herbei. Auch in der Abendblatt-Redaktion wurde diskutiert: Ist die Show ein Spiegel des Lebens - oder ein Grund zum Fremdschämen? Zwei Redakteure, zwei Meinungen. Lesen Sie selbst:

Pro:

Ja, ich weiß: Alles an "Ich bin ein Star - holt mich hier raus!" ist inszeniert. Die Geschichte, die mir in den vergangenen Wochen erzählt wurde, ist eine von vielen möglichen Geschichten. Die Geschichte ist wahr, aber eben nur in etwa so wahr wie alte Sagen, bei denen es nur eine Quelle gibt. Ich habe keine Ahnung, wie Sarah, Rainer, Eva oder Peer sich in ihrer Zeit im Dschungelcamp wirklich verhalten haben, was dort wirklich vor sich gegangen ist. Mir ist sogar egal, ob die Zuschauer wirklich Einfluss auf die Sendung haben. Ich weiß, dass RTL mir ein Theaterstück vorführt - und das Publikum weiß das auch. Deswegen schauen das so viele.

Das "Dschungelcamp" ist in mehrfacher Weise ein Rollenspiel: Es gibt darin jene, die drin sind und mit ihrer Telefonnummer auf dem Rücken um das Lagerfeuer sitzen. Sie versuchen, ihre Rolle zu spielen. Jene, die sie zum König machen könnte. Dann gibt es noch die Rolle, die ihnen die Moderatoren zuweisen: das Weichei mit dem Zylinder, das kranke Model, deren Nachnamen keiner kennt, der Urlinke mit der Kopfstandhilfe. Um zu beurteilen, wer diese Menschen wirklich sein könnten, hätte ich sie vor dem Camp kennen müssen - namentlich bekannt waren mir vorher aber nur Mathieu Carrière, Eva Jacob und Rainer Langhans. Alle anderen waren für mich leer und also keine Stars, wie im Titel der Sendung versprochen.

Das hätte ziemlich langweilig werden können, doch überraschenderweise war eben diese Leere das Beste, das der Sendung passieren konnte. Denn bricht der Star weg, bleibt alleine der Mensch übrig, sein Reden und sein Handeln. Und da ich die "Stars" nicht kannte, war ihre Rolle völlig offen. Ich war für sie offen. Es haben mich - wie viele - also nicht die Dschungelprüfungen vor den Bildschirm gelockt, nein: Es war das Menschliche. Das Drama. Liebe, Verrat, Freundschaft: Das sind große Themen, nicht nur in der Hochkultur. Und gerade ihre Nähe zum Theater hat diese Staffel des Dschungelcamps zum Besten gemacht, das ich seit langer Zeit im deutschen Fernsehen gesehen habe.

Das Theater hat sich lange um Sarah gedreht, und der Höhepunkt der Staffel war dann auch die Szene, in der Sarah Jay beschuldigte, seine Liebelei mit Indira nur zu spielen. Oder genauer: was danach geschah. Diese halbe Stunde Fernsehen hat alles darüber erzählt, wie brutal Menschen andere Menschen ausgrenzen und zerstören können, wie Gruppen sich finden und auflösen - und mit welcher Sprache dabei gearbeitet wird. Von widerlichsten Biologismen à la Carrière ("Du bist ein Virus", "Sarah ist wie ein Eiterpickel") bis zu direkter Konfrontation: "Du Verräterin!" (Karrenmacher). Das war ein Lehrstück, das größer war als das Format, in dem es gesendet wurde. Ich weiß nicht, ob er die gesamte Staffel durchgestanden hätte, aber ich bin mir sicher: Diese halbe Stunde hätte Max Frisch gefallen.

Das RTL-Theater setzt jedoch nicht nur auf Verunsicherung und Identifikation - gerade weil ich nicht weiß, ob Sarah recht hat, kann ich so gut mit anderen darüber diskutieren und mich auf eine Seite schlagen -, sondern auch auf höchstmögliche Kontraste. Vor allem in Gestalt von Dirk Bach und Sonja Zietlow. Bachs Kostüme, Zietlows Grimassen: Das ist völlig entrückt, drüber, daneben, närrisch. Die Dialoge zwischen den beiden sind pointiert, oft ungemein lustig, manchmal überraschend tiefgründig und selten dumm. Danke dafür.

Ja, ich weiß: Schon bald werde ich das "Dschungelcamp" vergessen haben. Aber gerade wäre ich überaus traurig, würde Peer das nicht gewinnen, dieser sensible, ehrliche, tragische Clown. (Sven Stillich)

Kontra:

Es gibt Menschen, die haben panische Angst vor Spinnen ("Arachnophobie") oder Angst vor Erdnussbutter, die am Gaumen kleben bleibt ("Arachibutyrophobie"). Und ich habe Angst vor meiner TV-Fernbedienung, vielleicht ist das eine Untergruppe der "Koumpounophobie", der Angst vor Knöpfen.

Bis vor einem Jahr war das überhaupt kein Problem. Die Fernbedienung meines uralten Röhrengerätes war maximal eine Nahbedienung. Sie funktionierte nur bis zu einer Entfernung von 30 Zentimetern, das Programm bestimmte meine Faulheit. 20 Uhr: "Tagesschau" auf Phoenix. Anschließend eine Doku auf Phoenix.

Zufällig bei den ersten, von 2004 an gesendeten Staffeln von "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus" zu landen war so also ziemlich schwierig. Außerdem hatte ich Angst vor dem "Gaffer-Syndrom", das einen zwingt, sich nicht von Dingen abzuwenden, die man nicht sehen will. Dazu kam die Panik vor dem Schmerz der Fremdscham, der einem wie eine Klitschko-Faust in die Magengrube fuhr, sobald Konsonantenpromis (B-D) wie die ersten Dschungelcamp-Insassen Daniel Küblböck oder Caroline Beil auf der Mattscheibe erschienen. Abgesehen davon wurden Susan Stahnke oder Costa Cordalis ja auch nicht mit umgeschnallten Fallschirmen über Neuguinea aus dem Flugzeug gestoßen, um den Speiseplan von geheimnisvollen Ureinwohnern zu ergänzen. Sie saßen nur im abgesperrten, von australischem Giftgetier befreiten Pseudo-Urwald. Alles Staffage. Wer guckt so was?

Dann kam Olympia in Vancouver, ein neuer Flachbild-Fernseher und eine Fernbedienung, die ihren Namen verdiente. Es begann das exzessive Zappen und damit der Abstieg in die zappendusteren Niederungen der TV-Unterhaltung: Nur ein Knopfdruck, und da war es, das Gaffer-Syndrom. "Frühlingsfest der Volksmusik", "Taff" oder "Deutschland sucht den Superstar" paralysierten mich, den machtlosen Zuschauer, und luden ein, für 50 Cent irgendwo anzurufen, um Quizfragen zu beantworten: "Wer moderierte die Harald-Schmidt-Show? A: Harald Schmidt. B: Anke Engelke."

Darum galt es, in den letzten Tagen einen weiten Bogen um die Fernbedienung zu machen - um nicht auf der dunklen Seite der Macht im "Dschungelcamp" zu landen. Denn da waren sie alle: Die Castingshow-Resterampe (Indira Weis, Sarah Knappik), die welken Playmates (Gitta Saxx), ja sogar dieser Typ aus einer Phoenix-Doku über die 68er (Rainer Langhans). Das klang wie die Panzerfaust der Fremdscham!

Da half nur eins: Auf dem Fernseher wurden nur DVDs geschaut, in den Zeitungen weitestgehend Sport- und Politikteil gelesen und die Freundesliste bei Facebook wurde von allen Freunden, Bekannten und Medienpartnern bereinigt, die im Netz über "Indiras Hupen" oder den Dschungelcamp-Song "Jetzt wird es heiß" von den Zipfelbuben diskutierten. Das hat bis heute prima funktioniert. Ich habe keine Ahnung, wer bisher alles aus dem Camp geflogen ist und ob das kulturelle Abendland nun schon (wieder) untergegangen ist oder nicht. Das Gaffer-Syndrom wurde so vermieden und ich gehöre zu den 60 Prozent der werberelevanten Zielgruppe, die sich diese Gaga-Sendung nicht angetan haben.

Dabei war ich in höchstem Maße gefährdet: Im Jahr 2000 blieb ich zappend bei einem Freund an der ersten Staffel von "Big Brother" hängen. Ich schaute sie bis zum Finale. Und rief an, um Jürgen Milski rauszuwählen, damit Zlatko Trpkovski im Container bleibt. Nun ist es raus. Sie dürfen sich jetzt für mich fremdschämen. (Tino Lange)