Triumphe und Skandale, Freude und Trauer, Verblüffendes und Entäuschendes lagen auch im vergangenen Jahr in der Kulturwelt nah beieinander.

Berlin. Der Tod zweier so ungleicher Giganten wie Christoph Schlingensief und Wolfgang Wagner, höchste Preisehren für Schauspieler Christoph Waltz und Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji und die Dauersorge um die Einsparungen bei der Kultur gehörten zu den Topthemen in den Feuilletons 2010:

1. THEATERWELT VERLIERT SCHLINGENSIEF

Trauer und Bestürzung, als Christoph Schlingensief am 21. August mit 49 Jahren an Lungenkrebs stirbt. Er galt als einer der wichtigsten und innovativsten Theater-, Opern- und Filmregisseure der Gegenwart. Mehr als zwei Jahre hatte er der heimtückischen Krankheit getrotzt und war ihr am Schluss doch erlegen. Er hinterließ zahlreiche unvollendete Projekte – darunter die Gestaltung des deutschen Pavillons auf der Kunstbiennale 2011 in Venedig und sein geliebtes Operndorf in Afrika. Ein Meilenstein seiner Karriere war 2004 sein Operndebüt mit Richard Wagners Abschiedswerk „Parsifal“ in Bayreuth.

2. BAYREUTH OHNE WAGNER

Auch am Grünen Hügel gibt es eine einschneidende Zäsur: Der jahrzehntelange Haus-Patriarch Wolfgang Wagner stirbt am 21. März mit 90 Jahren. Seine beiden Töchter, die Halbschwestern Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, hatten schon im Jahr zuvor die Leitung übernommen. Die ersten Festspiele ganz ohne den mächtigen Übervater gelten als gelungener Neubeginn. Zwar sorgt die diesjährige Neuinszenierung des „Lohengrin“ von Hans Neuenfels mit seinem als Ratten verkleideten Chor für Kontroversen, aber die Zeiten von Familienzwist und möglicher „Erstarrung“ scheinen vorbei.

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3. OSCAR FÜR WALTZ

Der deutsch-österreichische Schauspieler Christoph Waltz wird bei der diesjährigen Oscar-Vergabe zum besten Nebendarsteller des Jahres gekürt. Der inzwischen 54-Jährige bekommt den Preis für seine Rolle als SS-Standartenführer Hans Landa in Quentin Tarantinos Kriegsfilm „Inglourious Basterds“. Der nach Preisen in Cannes und bei den Golden Globes erfolgsverwöhnte Michael Haneke geht mit seinem Schwarz-Weiß-Drama „Das weiße Band“ leer aus - wenige Wochen später wird er beim 60. Deutschen Filmpreis mit gleich zehn Lolas entschädigt.

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4. THEATER DES JAHRES

Eine Jury aus 42 Theaterkritikern kürt das Schauspiel Köln zum „Theater des Jahres“. Intendantin Karin Beier (44) kann mit der von ihr in Szene gesetzten Gesellschaftsgroteske „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“ zudem die Auszeichnung für die beste Inszenierung holen. Sie habe das Haus als „rettender Engel“ wieder zu einem Erfolgsmodell gemacht, urteilt das Magazin „Theater heute“, das die renommierte Umfrage im August veröffentlicht. Schon beim Theatertreffen der Berliner Festspiele im Mai war Beiers Haus mit drei der insgesamt zehn dort geladenen Inszenierungen vertreten.

5. HYPE UM KUNSTSCHAUEN

Der italienische Renaissance-Künstler Sandro Botticelli beschert in seinem 500. Todesjahr dem Frankfurter Städel-Museum einen Rekord: Mit fast 370.000 Besuchern wird eine Ausstellung seiner Meisterwerke im Februar zur bestbesuchten Schau in der 200-jährigen Geschichte des Frankfurter Kulturtempels. Auch bei der späteren Kirchner-Retrospektive im Städel, den Neo-Rauch-Schauen in München und Leipzig und der Frida-Kahlo-Ausstellung in Berlin wird stundenlanges Schlangestehen zum Kunsterlebnis für sich. Bei Kahlo warten die Besucher sieben Stunden und mehr.

6. DEUTSCH ALS FREMDSPRACHE

Mit der ungarischen Serbin Melinda Nadj Abonji erhält im Oktober eine Überraschungskandidatin den renommierten Deutschen Buchpreis. Erstmals geht die Auszeichnung in die Schweiz – und vor allem erstmals an jemanden, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ehrt die 42-Jährige für ihren autobiografischen Roman „Tauben fliegen auf“. Auf der Strecke bleibt unter anderem Peter Wawerzinek, der mit seinem ebenfalls autobiografischen Roman „Rabenliebe“ zuvor den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hatte.

7. IDEENKLAU CONTRA AUTORENRECHT

Die junge Berliner Schriftstellerin Helene Hegemann (18), zunächst als Shootingstar gefeiert, löst Anfang des Jahres in den Feuilletons Furore aus. Es stellt sich heraus, dass sie für ihren Szene-Roman „Axolotl Roadkill“ ganze Passagen mehr oder weniger wörtlich aus einem Blogger-Buch übernommen hat. Dagegen wird die Bühnenfassung des Skandalromans in der Inszenierung von Bastian Kraft am Thalia Theater in Hamburg im November begeistert gefeiert.

8. FREUND ALS SPITZEL

Der rumänische Lyriker Oskar Pastior, ein langjähriger Freund von Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, soll für den rumänischen Geheimdienst Securitate Kollegen und Freunde bespitzelt haben. Müller ist nach anfänglicher Verteidigung über neue Enthüllungen im November „entsetzt“ und „verbittert“. Ihr Buch „Atemschaukel“ (2009) hätte sie in Kenntnis der Vorwürfe wohl so nicht geschrieben, sagt sie. Grundlage für den Roman waren die Erlebnisse Pastiors (1927-2006) in einem sowjetischen Lager.

9. MÜNCHEN OHNE NAGANO

Nach dem 2009 angekündigten Rückzug von Philharmoniker-Chef Christian Thielemann muss die Münchner Kulturszene einen weiteren Aderlass verkraften. Der weltberühmte Dirigent Kent Nagano (59) kündigt im Sommer an, seinen Vertrag als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper nicht über 2013 hinaus verlängern zu wollen. Unverblümt macht er die „kulturpolitischen Entwicklungen der letzten Monate“ verantwortlich, also auch die Querelen um Thielemann. Nachfolger soll der gut 20 Jahre jüngere russische Dirigent Kirill Petrenko werden.

10. SPARKURS GEGEN KLEINE

Opfer der Sparpolitik in Bund und Ländern sind vor allem kleinere Einrichtungen wie Regionalmuseen, Provinztheater und Stadtbüchereien. In Halle etwa steht das Thalia Theater zur Disposition, in Paderborn soll das Museum in der Kaiserpfalz zumachen. Größte „Leuchtturmentscheidung“ ist im Sommer der Beschluss der Bundesregierung, den auf mehr als eine halbe Milliarde Euro veranschlagten Wiederaufbau des Berliner Schlosses auf 2014 zu verschieben. Das dort geplante Kultur- und Museumszentrum soll jetzt erst 2019 statt 2017 fertig sein.

+++ Das Dossier zu den Sparplänen des Hamburger Senats und den Kulturprotesten der Bürger +++

11. KULTURHAUPTSTADT

300 Projekte, 5000 Veranstaltungen: Mit einem Besucherrekord von mehr als zehn Millionen Gästen endete im Dezember die Kulturhauptstadt im Ruhrgebiet. Ziel war ein Programm für die breite Bevölkerung. Deshalb gab es eine Mischung aus breitenwirksamen Angeboten wie dem ruhrgebietsweiten „Day of Song“ und Hochkultur. Die Kulturhauptstadt zeigte neue Bilder über das einst von der Industrie stark geprägte Ruhrgebiet. Überschattet wurde das Festival von der Loveparade-Katastrophe in Duisburg mit 21 Toten und rund 500 Verletzten.