Der 49-jährige Regisseur erlag seinem Lungenkrebsleiden. Er beeinflusste die Film- und Theaterwelt wie nur wenige vor ihm.

Berlin. Der Regisseur und Intendant Christoph Schlingensief ist tot. Er gehörte zu den bedeutendsten Regisseuren der Gegenwart und hat wie nur wenige die deutschsprachige Film- und Theaterwelt irritiert und beflügelt. Er starb am Sonnabend in Berlin im Alter von 49 Jahren, wie seine Ehefrau Aino der Nachrichtenagentur dpa mitteilte. Schlingensief war Anfang 2008 an Lungenkrebs erkrankt und operiert worden. Darüber erstattete er ausführlich in einem bewegenden „Tagebuch einer Krebserkrankung“ Bericht.

Nach Rückschlägen ging es Schlingensief, der zuletzt im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg lebte, dann wieder besser. Die gesundheitliche Fortschritte animierten ihn auch wieder zu neuen künstlerischen Aktivitäten. Mit ihnen verarbeitete er gleichzeitig seine Krebserkrankung auf der Bühne. Diese Produktionen wie „Mea culpa“ oder „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ am Wiener Burgtheater und bei der Ruhrtriennale hatten 2008 und 2009 große Beachtung gefunden.

2009 gehörte der Regisseur auch zur Jury der Internationalen Filmfestspiele in Berlin. Im Mai 2010 inszenierte er das Opernprojekt „ Via Intolleranza II“ nach Luigi Nono in Brüssel und anderen Orten.

Im Oktober 2010 stand eine Inszenierung zur Wiedereröffnung des Berliner Schillertheaters als Ausweichspielstätte von Daniel Barenboims Staatsoper auf seinem Terminkalender. Zuletzt hatte Schlingensiefs überraschende Berufung zur künstlerischen Gestaltung des deutschen Pavillons bei der Biennale in Venedig 2011 Aufsehen erregt – für ihn selbst „eine Überraschung, eine Freude, aber auch eine schwere Last“. An der Pressekonferenz zur Vorstellung seiner Pläne hatte er Anfang Juli in Frankfurt am Main aber krankheitsbedingt nicht teilnehmen können.

Auch eine Produktion für die Ruhrtriennale („S.M.A.S.H. – In Hilfe ersticken“) musste Schlingensief in diesem Sommer absagen. In einem Brief an sein Team nannte er als Begründung „neue Befunde“ in seinem Krankheitsfall – „ein paar harte Neuigkeiten“. Sein letzter Traum aber hieß Afrika mit einem eigenen „Festspielhaus“ in Burkina Faso, wozu er sogar unter dem Motto „Von Afrika lernen“ Schützenhilfe vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler sowie Unterstützung durch das Goethe-Institut und die Bundeskulturstiftung und Prominente wie den Schriftsteller Henning Mankell oder Sänger Herbert Grönemeyer erhielt.

Im Februar 2010 legte er den Grundstein dazu. Schlingensief sprach zuletzt lieber von einem „Operndorf“ mit Schule und Theatersaal, das kein „abgehobenes Bayreuth“ werden sollte, wie Schlingensief betonte, der von 2004 bis 2007 sein spektakuläres Debüt als Opernregisseur bei den Bayreuther Festspielen mit Richard Wagners Spätwerk „Parsifal“ gab, Wagners „Weltabschiedswerk“.

Der am 24. Oktober 1960 in Oberhausen geborene Christoph Maria Schlingensief galt als einer der bedeutendsten und oft auch provokantesten Regisseure und Aktionskünstler in der deutschsprachigen Kulturszene. Dabei hat der auch von Selbstzweifeln nie freie Regisseur sich in den letzten Jahren vehement dagegen gewehrt, stets als „Theaterprovokateur“ abgestempelt zu werden, wobei zu seinem Ruf Aktionen wie die auf „Big Brother“ anspielende Container-Installation „Ausländer raus – Bitte liebt Österreich!“ im Jahr 2000 in Wien beigetragen haben.

In den 90er Jahren gehörte er zu Frank Castorfs Hausregisseuren an der Berliner Volksbühne. Bekannt wurde Schlingensief vor allem mit seinen frühen Filmen „Das deutsche Kettensägenmassaker“ (1990), „Terror 2000 – Intensivstation Deutschland“ (1992) und der TV- „Talkshow 2000“ sowie mit seinen Theaterinszenierungen, Kunstperformances und Installationen wie „100 Jahre CDU“, „Rocky Dutschke, 68“, „Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland“ (in Hamburg), und „Hamlet“ in Zürich.

Die Visionen und Kunstvorstellungen Schlingensiefs erinnerten manchmal an den Aktionskünstler Joseph Beuys (1921-1986) mit dessen „erweitertem Kunstbegriff“. Er war auch eines der großen Vorbilder des Regisseurs. Und ähnlich wie Beuys wurde auch Schlingensief, wie es ein Kritiker schrieb, von den einen als „nervtötender oder auch begnadeter Selbstdarsteller“ oder gar „Spinner“ und von den anderen als „Lichtgestalt unter all den Energiesparlampen“ in der Kulturszene angesehen.

Der Oberhausener Messdiener Schlingensief versuchte sich schon früh als Filmemacher und erregte mit Underground-Streifen wie „Menu total“ (1985/86) mit seinem Jugendfreund Helge Schneider („Mein Führer“) und der folgenden Deutschlandtrilogie unter anderem mit „100 Jahre Adolf Hitler“ und „Terror 2000“ Aufmerksamkeit. Im Fernsehen tauchte er ab 1997 auch als unberechenbarer Talkmaster („Talk 2000“) auf mit Gästen wie Hildegard Knef, Udo Kier oder Helmut Berger.

OPERNDORF IN AFRIKA

Seinen Durchbruch als Theaterregisseur hatte Schlingensief in den 90er Jahren an Frank Castorfs Berliner Volksbühne mit Inszenierungen wie „100 Jahre CDU“ oder „Rocky Dutschke, 68“, wobei er auch Laien und Behinderte einsetzte, die bis zuletzt zu seinem engeren Ensemble gehörten – „Du bist wie ich“, sagte Schlingensief einmal zu einer seiner behinderten Darstellerinnen, „wir sind alle krank“.

Im Sommer 2009 heiratete der krebskranke Schlingensief im brandenburgischen Hoppenrade seine langjährige künstlerische Mitarbeiterin Aino Laberenz. Im Mai 2010 sagte der an Lungenkrebs erkrankte Schlingensief in einem Interview, er wisse seit einigen Monaten, dass er neue Metastasen habe. Durch den Krebs sei „alles in den Boden gerissen worden“.