Hamburgs Kulturszene stellt sich hinter die Rote Flora. Aber was würde eigentlich fehlen, wenn sie verschwände (außer ein paar Wände)?
Hamburg. Für die einen ist die Rote Flora ein Stachel im Fleisch Hamburgs. Für die anderen ist sie das ebenso. Und während die einen seit Jahren den Tag herbeisehnen, an dem sie endlich verschwunden ist, soll sie für andere genau das sein: ein steter Schmerz, eine Prellung im Körper der Stadt, ein unangenehmes Jucken an einer Stelle, an die man schlecht rankommt.
Die einen, das kann man wohl sagen: Das ist die Mehrheit der Hamburger Bürger. Für sie steht das marode Gebäude für eingeschlagene Scheiben beim Schanzenfest, für brennende Autos und schwarze Blöcke. Für sie ist die Rote Flora nichts weiter als ein vom Verfassungsschutz beäugtes Sammelbecken für Neu- und Altlinke, die in dem ehemaligen Theater realitätsferne Politdebatten aufführen und sich selbst genüge sind, seit Langem isoliert vom pulsierenden, jungdynamischen Stadtteil um sie herum. Für die anderen, die Minderheit, ist das Haus am Schulterblatt nichts weniger als ein steinernes Symbol für ein anderes Hamburg, für alternative Lebensentwürfe, für Denken und Handeln abseits des gesellschaftlichen und politischen Mainstreams. Ein Raum für Konzerte, Diskussionen, Interventionen.
Nun ist die Rote Flora wieder einmal - je nach Sichtweise - endlich bald weg beziehungswweise konkret bedroht. Im März laufen einige Vertragsklauseln aus, die den derzeitigen Eigentümer Klausmartin Kretschmer zum Beispiel daran binden, vor einem Verkauf des Gebäudes die Zustimmung der Stadt einzuholen. Außerdem muss das Gebäude nach einem Eigentümerwechsel nicht mehr zwingend als soziokulturelles Stadtteilzentrum genutzt werden. 19 Millionen Euro sollen Kretschmer angeblich geboten worden sein. Das ist kein Wunder: Es gibt viele Investoren, die seit Jahren mit Hunger im Blick um das Immobilienfilet im Schanzenviertel herumstreifen.
Eine Reaktion auf diese Entwicklungen ist die "Rote Flora bleibt!"-Festspielwoche, die gerade begonnen hat. Bekannte Bands wie 1000 Robota werden am kommenden Dienstag aus Solidarität mit den Hausbesetzern bei einer großen Party in der Fabrik spielen, es gab ein Konzert im Uebel & Gefährlich, Jan Delay trat in der Roten Flora auf, es gibt Filme über Hausbesetzungen im Gängeviertel, und auf Kampnagel feiert der Golden Pudel Club heute seinen 21. Geburtstag als Teil der Festwoche. "Sie dürfen sich jetzt als Protestbürger betätigen und Gutes tun zur Weihnachtszeit", bittet Kampnagel die Leser seines regelmäßig erscheinenden Internet-Newsletters: "Lesen und unterschreiben Sie bitte den Aufruf für das besetzte Bewahrzeichen Hamburgs 'Ich würd's so lassen!'."
Die Hamburger Kulturszene steht also Schulter an Schulter für das Gebäude am Schulterblatt. Und nicht nur sie: Mehr als 1300 Personen und Gruppen haben den Aufruf bereits unterschrieben, in dem es heißt: "Die Rote Flora ist besetzt. Sie ist und bleibt das große, schmutzige, unverkäufliche Monster, das sich eben nicht als 'Katalysator' oder 'Inkubator' für ein 'kreatives Milieu' einfangen lässt. Wer immer mit dem alten Gemäuer spekulieren, damit dealen oder es räumen lassen will, bekommt es mit uns zu tun." Unter den Unterzeichnern: Verlage, Kinos, Postbeamte, Krankenpfleger, Pfarrer sowie viele Anwohner, Kneipen und Geschäfte aus dem Schanzenviertel.
Man kann zur Roten Flora stehen, wie man will – man sollte diesen Protest zur Kenntnis nehmen. Und sich bei dieser Gelegenheit ein paar Fragen stellen: Wie klein ist diese Minderheit eigentlich, die etwas Wertvolles in dem "alten Gemäuer" sieht? Und: Wie wertvoll ist dieses Wertvolle, das dort verteidigt wird? Ist anzunehmen, dass sich Kampnagel und Konsorten und so viele Hamburger Bürgerinnen und Bürger für Steine werfende Spinner einsetzen? Könnte die Rote Flora schon deswegen wichtig sein, weil sie ein Ort für Menschen ist, die sonst keinen haben? Und wie wichtig und nötig sind eigentlich Menschen und Orte, die den Status quo des Gemeinwesens immer wieder infrage stellen, für den soziokulturellen Reichtum und damit die Zukunft einer Stadt? Nicht dass die Rote Flora selbst erpicht darauf wäre, wichtig für Hamburg zu sein, aber: Ist sie es vielleicht dennoch – oder sogar gerade deshalb? Andersherum gefragt: Wie viel Freiräume und wie viel Widerstand braucht eine moderne Kulturstadt (wenn sie denn wirklich eine Kulturstadt sein will)?
Und was würde eigentlich mit dem durchgentrifizierten Viertel und der Stadt passieren, wenn die Rote Flora weg wäre? Bei vielen Bürgern und Politikern wäre der Jubel wohl groß. Doch vielleicht wäre der Phantomschmerz – auch nach Abflauen der zu erwartenden Proteste – noch viel größer. Weil plötzlich etwas fehlt, an dem man sich reiben kann und muss. Wie gesagt: Man kann zur Roten Flora stehen, wie man will. Man kann, aber niemand muss das dreckig-bunte Haus gut finden. Wer dagegen ist, muss allerdings spätestens nach dieser Festwoche und dem Aufruf eine Frage beantworten: Was wäre so schlimm daran, es so zu lassen?