Seine Freunde sagten, er müsse sein Leben erzählen - “Der patagonische Hase“ von Claude Lanzmann ist ein überwältigendes Buch.
Hamburg. Wenn man nach der Lektüre dieses dicke Buch zuklappt, fährt man sich über die Stirn; aber da ist gar kein Schweiß. Man hat das Lesen hinter sich gebracht, es war eine aufregende Tour im Fahrtwind der Geschichte. Er blies so stark, vielleicht musste man trocken bleiben, Claude Lanzmann hat schließlich auch nicht geschwitzt, so liest sich sein Buch zumindest. Seine Lebenserinnerungen, die sind keine Autobiografie, sondern ein Abenteuerroman. Das Lebensbuch eines ungeheuren und immer coolen Mannes, der, so steht es in "Der patagonische Hase", furchtlos lebt von Beginn seines Lebens an; es beginnt in Paris, 1925.
Dieses Leben ist gefährdet, weil die Deutschen die Juden ausrotten wollen. Lanzmann, Nachkomme osteuropäischer Juden, wächst in Paris und der Auvergne auf. Der Vater ist Dekorateur und arbeitet hart, und in den Jahren der deutschen Besetzung übt er mit seinen Kindern das schnelle Verstecken in einem tiefen Loch im Garten. Es sollte eine Probe ohne Aufführung werden, denn das Stück seines Lebens ist bei Lanzmann eines ohne Fluchten, zumindest in der Schilderung des Ich-Erzählers. Der nimmt an den Partisanenkämpfen der Résistance teil, da ist er noch ein Teenager und Chef einer kommunistischen Zelle.
Er verabscheut die Feigheit, und die Geschichten von den Hinterhaltkämpfen, in denen man tapfer sein muss, erzählt er im "patagonischen Hasen". Einer ist es mal nicht, Lanzmann verachtet ihn für den Rest seines Lebens. Seine Freunde in den Intellektuellenzirkeln Frankreichs hätten ihm, schreibt Lanzmann, tausendmal gesagt, er müsse von diesem Leben erzählen, also tut er's, als wäre es ein Roman. Und er ist ein Held, ein Draufgänger, Indiana Jones vielleicht, auf jeden Fall angstfrei und immer neugierig.
Obwohl: Die Dämonen des Erzählers Lanzmanns gibt es, natürlich. Sie werden gleich zu Beginn des Buches eingeführt, wo Lanzmann von seiner lebenslangen, albtraumartigen Angst vor der Guillotine erzählt; sie drohte ihm ja nie leibhaftig. Aber Lanzmann bezeichnet seine Auseinandersetzung mit der Hinrichtung, mit der Todesstrafe, mit der zum Beispiel die Kolonialmacht Frankreich angreifende Algerienkämpfer bestraft wurden, als die Geschichte seines Lebens. Aber sie ist so wichtig wie irgendeine, die er in seinen Memoiren zu Papier gebracht hat. Eigentlich hat er dieses Buch diktiert, man meint den mündlichen Duktus seines unmittelbaren Berichtens in jeder Episode zu spüren.
Lanzmann, wie er beim Schwimmen im Meer fast ertrinkt. Wie er sein Leben fast bei einem Autounfall verliert. Wie er ungestüm eine Schaufensterscheibe durchläuft und eine Schlagader aufreißt. Wie er sich bei einer Nordkoreareise Aufputschmittel injiziert, um durchzuhalten. Wie er als alter Mann mit Düsenflugzeugen in die Luft geht und wie er Frauen erobert (so erfolgreich möchte man auch sein): Hier ist einer immer mittendrin, das Nur-dabei-Sein des Beobachters wird an keiner Stelle je behauptet.
Lanzmann ist immer in der Szene. Und immer im Mittelpunkt. Man kennt den Herausgeber der "Les Temps Modernes", Journalisten und Filmemacher aus seinem monumentalen Meisterwerk "Shoah", wo er die Zeitzeugen des Völkermords und die Stätten des Genozids besuchte. Er trat als unbarmherziger Fragesteller auf, für einen Interviewer war er sehr präsent. Aber er stellte Fragen. Wenn er jetzt in seiner Autobiografie eine Antwort gibt auf die Fragen des Lebens, dann ist er in dem Sinne rücksichtslos gegen sich selbst, als er kompromisslos sein Wirken zum Maß aller Dinge erklärt. Man könnte sich keinen selbstgewisseren Führer durch die Biografie eines Mannes des an Krisen reichen 20. Jahrhunderts vorstellen. Lanzmann berichtet von seiner Herkunftswelt, in der das Judesein im religiösen Sinne keine große Rolle spielte. Sartres "Betrachtungen der Judenfrage", wonach der Jude zum Juden durch den Antisemiten werde, beeindruckten den jungen Lanzmann nachhaltig. Sartre selbst wurde auf den Journalisten aufmerksam, so wurden die beiden einander vorgestellt. Von der geistigen Ménage-à-trois, zu der auch Simone de Beauvoir gehörte, handeln große Teile des Buchs, aber es ist offensichtlich, wem das Hauptinteresse dieses mächtigen Erzählers gehört: der Liebesbeziehung zu de Beauvoir.
Dafür lässt er vieles andere, ganz Persönliches weg, zum Beispiel weite Teile der Ehe mit Angelika Schrobsdorff, der deutsch-jüdischen Schriftstellerin. Sohn Felix, dem er das Buch widmet, taucht überhaupt nicht auf.
Was auch verdeutlicht: Die Lebensbilanz, die Lanzmann hier zieht, addiert nicht alle privaten Handlungen, sie wählt aus. Lanzmanns Bericht ist nicht chronologisch, sondern assoziativ. Zwölf Jahre arbeitete Lanzmann ("Ich hatte die Kraft, mir Zeit zu nehmen") an "Shoah", die Arbeit war schmerzhaft und detektivisch, kontemplativ und nüchtern. Sie stand mehrere Male finanziell vor dem Aus, sie ist auch der Grund, warum Lanzmann so ein großes Selbstbewusstsein hat. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er der Schöpfer ist: "Shoah" ist sein Film, er verwischt die Grenzen. "Shoah" sei, sagt Lanzmann, ein Film, der sich "der Einordnung zwischen Dokumentation und Fiktion" entziehe, er sei ein Kunstwerk.
Sein Buch handelt sehr viel von diesem einen Film und der zunächst oft feindlichen Rezeption (vor allem in Polen). Er schreibt mit dem Stolz des Mannes, der gegen Widerstände ein Meisterwerk geschaffen hat.
Man hat ihm in Frankreich diese Selbststilisierung vorgeworfen, "Der patagonische Hase" wurde dennoch zum Buch des Jahres gewählt. In Deutschland gab es Anfang des Jahres einen kleinen Skandal, als ein Berliner Kunsthistoriker, Autor eines Buchs über den Gründer der Freien Universität, Erwin Redslob, ihn der historischen Unwahrheit zieh. In seinen Memoiren berichtet Lanzmann, dass Redslob 1949 als Rektor der FU entlassen worden sei, und zwar aufgrund eines Artikels von Lanzmann in der "Berliner Zeitung", in dem er die verhinderte Entnazifizierung des Betriebs geißelte.
Das stimmt anscheinend nicht: Redslob schied sechs Monate später aus Altersgründen aus dem Amt. Aber so wie der nach dem Krieg in Tübingen und Berlin studierende und arbeitende Lanzmann die Geschichte erzählt, klingt sie eben besser, spannender. Und für den Autor wohl auch: wahrer, weil eine Autobiografie immer auch Wunscherleben ist.
Lanzmann pflegt sie, die undistanzierte Haltung, er verwandelt sich das Vergangene, sogar das Fremde, ganz an. In Bezug auf "Shoah" ist folgende Aussage Lanzmanns überliefert: "Der Film hebt jegliche Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf; ich habe diese Geschichte in der Gegenwart wieder gelebt."
Wer dieses reiche, überwältigende Erinnerungsbuch liest, der wundert sich nicht über Lanzmanns philosophische Lösung der Sterblichkeit. Für ihn habe die Zeit "nie aufgehört, nicht zu vergehen", sagt er und meint: Für ihn vergeht sie nicht, die Zeit, er ist alterslos. Er springt auf die Seiten seines Lebensbuchs, und er findet sich überall und souverän.
Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Rowohlt. Dt. von Erich Wolfgang Skwara, Claudia Steinitz, und Barbara Heber-Schärer. 688 S., 24,95 Euro.
Lesung auf dem Harbour-Front-Festival am 14.9., 19.30, Fischauktionshalle, Eintritt 14 Euro