Der Kinderbuchbestseller “Der kleine Nick“ von René Goscinny kommt am Donnerstag ins Kino. Die Geschichten funktionieren auch nach 50 Jahren.

Eine Geschichte über den Kleinen Nick beginnt man am besten mit typischen Nick-Sätzen: "Es war wirklich schon spät und es fing schon an, dunkel zu werden, und auf der Straße waren keine Leute mehr und da bin ich aber gerannt. Wie ich zu Hause angekommen bin, hat die Mama geschimpft, weil ich zu spät zum Abendessen komme - immer dasselbe!" Sätze wie aus der Abc-Schultüte, atemlos herausgepoltert und ohne Drumherumreden auf den Punkt gebracht. Es sind Sätze, die fast nichts bedeuten. Die aber trotzdem riesige suggestive Kraft haben. Und sofort ist alles wieder da: Nick und seine Kumpels auf dem Schulhof, beim Murmelspielen, Indianerspielen, Raufen. Adalbert, der olle Ranschmeißer und Klassenbeste; der dicke Otto, der ständig Krümel von seinem Marmeladenbrötchen spuckt, und Nick selbst, der von zu Hause auswandern will, weil alle fürchterlich ungerecht sind.

So viele Momente der eigenen Kindheit stecken in diesen Geschichten, die Regisseur Laurent Tirard jetzt für die Leinwand adaptiert hat. Sie versetzen uns zurück auf die Schulbank - obgleich die Epoche, das Land, die Sozialisation eine andere ist. Darin besteht das Genie vom "Kleinen Nick"-Schöpfer René Goscinny : Der Leser fühlt sich erkannt in seinen großen und kleinen Ängsten, den Kindheitsträumen, dem nostalgischen Blick auf die Vergangenheit. Und nichts anderes erwartet man schließlich von großer Literatur, auf die man stets den simplen Lackmus-Test anwenden kann: Woher weiß dieser Autor so viel über uns?

"Der kleine Nick" ist ein Gegenmittel zum Hier und Jetzt, was für die seit Anfang der 60er-Jahre erschienenen Sammelbände, die sich weltweit mehr als acht Millionen Mal verkauften, ebenso gilt wie für den Kinofilm. Goscinny, dem die Welt auch "Asterix und Obelix" und "Lucky Luke" verdankt, und sein kongenialer Partner, der Zeichner Jean-Jacques Sempé, erzählen Geschichten aus einer Fantasiewelt, einem hermetischen System.

Es gibt keine Arbeitslosigkeit, keine Kriminalität, keine Scheidungen - nur den ganz normalen kompakten Familienwahnsinn: Papa lädt seinen Chef nach Hause zum Essen ein, um ihn zu beeindrucken; Mama besteht darauf, ihren Führerschein zu machen; und Nick weiß auf sein Aufsatzthema keine Antwort: "Was wollt ihr einmal werden, wenn ihr groß seid?", denn an seinem Leben soll sich bitte schön gar nichts ändern. "Der Kleine Nick" evoziert eine Welt, die sich selbst genügt. Am Ende gibt es immer Apfelkuchen, der die Versöhnung besiegelt.

"Der kleine Nick" (im Original: Le petit Nicolas) sei im Grunde schon aus der Mode gewesen, als sie ihn vor mehr als 50 Jahren erfanden, erklärt Jean-Jacques Sempé in einem Interview - und wahrscheinlich ist genau das der Grund dafür, dass die Geschichten so lange Bestand haben. In seinem Film lässt Regisseur Tirard die Formen- und Farbwelt der 50er-Jahre wieder auferstehen. Er schafft es, einen bestimmten Duft, eine Melodie, kurz: das Flair dieser Zeit einzufangen und in Bilder zu übersetzen - und damit in unser kollektives Unterbewusstsein vorzudringen.

Nun erkennt man, wenn man den "Kleinen Nick" als Kind liest, noch längst nicht alle Sachen, die man als Erwachsener dort entdeckt. Weshalb das Werk so prächtig generationenübergreifend funktioniert: Es ist aus kindlicher Sicht geschrieben, aber mit dem Verständnis eines Erwachsenen. Es bleibt stets auf Augenhöhe mit seinen Hauptfiguren und taugt doch manch einem Erwachsenen als Allheilmittel gegen jede Art von Literaturverdruss oder anderweitige Lebenskrisen.

"Der Kleine Nick" ist ein tröstlicher und warmer Film, ähnlich wie der jüngste Kinohit aus Frankreich, "Willkommen bei den Sch'tis". In seiner Heimat lockte er mehr als 5,5 Millionen Zuschauer in die Kinos und war damit die erfolgreichste einheimische Produktion 2009. Sempés präzise, minimalistische Zeichnungen haben es - eine kluge Entscheidung - nicht in den Film geschafft, aber immerhin in den Vorspann, bei dem man die Augen aufsperren sollte. Ein animiertes Papierschauspiel entfaltet sich da, das nach wenigen Minuten elegant an die Schauspieler übergibt: an Sandrine Kiberlain, eine der wandelbarsten Frauen des französischen Kinos, als sanftmütige Lehrerin; an Kad Merad, dessen Gesichtszügen von Natur aus etwas Zeichentrickhaftes eingebrannt scheint, als aufgeplusterten und doch aufopferungsvollen Vater; und nicht zuletzt an Maxime Godart, ein knopfäugiger Bub mit Puppengesicht, gesegnet mit dem fröhlich-unruhigen Charme des Original-Nicks.

Die Handlung nachzuerzählen ist fast unmöglich, sie hat kaum Spannungsbögen, reiht mit leichter Hand Atmosphären, Beobachtungen und kleine Pointen aneinander. Dennoch folgen die Macher konsequent einem roten Faden, dem einer Jungswelt nämlich, in der Nick sich behaupten und seinen Platz finden muss.

Wie er wütend wird und ängstlich, weil Mama wieder ein Baby bekommt, das sie vielleicht lieber haben wird als ihn; wie er rot wird, als seine kleine Nachbarin ihn zum Spielen einlädt; und wie jeder seiner Freunde schließlich seine eigene Bande gründet, weil alle Anführer sein wollen - das sind allgemeingültige Geschichten, zeitlos und in gewissem Maße auch alterslos, schließlich wird das Leben nicht einfacher.

Groß war die Freude, als Anne Goscinny vor etwa zehn Jahren einen mit Durchschlägen gefüllten Karton aus dem Nachlass ihres mit nur 51 Jahren verstorbenen Vaters René Goscinny fand: unveröffentlichte Geschichten vom "Kleinen Nick", unverkennbar im Geiste des bekannten und geliebten Werks. Einem Wiedersehen mit dem verschollen geglaubten Jugendfreund kam die Publikation gleich. Ein wenig so verhält es sich auch mit dem Film, der, um mit Nick zu reden, ein Mordsspaß ist und darüber hinaus: mitten ins Herz zielend und dem Leben abgelauscht. Der kleine Nick, das sind wir alle.