Vor einem Jahr wurde das Gängeviertel von Künstlern besetzt, in der alten Fabrik soll nun ein kultureller Ort für alle Bürger entstehen.
Hamburg. Sogar der alte Kohleofen stand noch da. Sagt Anneliese Wasilewski, 78 Jahre, rückt ihre Brille zurecht, die Haare und den knielangen Rock. Sie ist hier aufgewachsen. Mitten im Gängeviertel, mitten in Hamburg, genauer gesagt: "Im Eierhof, so haben wir ihn jedenfalls genannt." Da muss sie gleich wieder ihren Rock glatt streichen. "Jeder Hof hatte ja seinen Namen, Eierhof, Milchhof, Kachelhof", sagt sie, "da hinten kamen die Nazis raus, als sie sich vor den Engländern verstecken mussten, hier vorne haben wir Völkerball gespielt, und manchmal haben uns die Leute aus der Fabrik drüben Papier über die Mauer geschmissen. Auf dem konnten wir dann malen." So klingen sie, die Sätze von Frau Wasilewski, an einem Wochenende im August 2010. Sätze so groß, dass man nicht genau weiß, was man entgegnen soll.
+++ Das Gängeviertel - Eine Chronik der Ereignisse +++
Vielleicht, dass dies ein gutes Wochenende war. Für Hamburg und seine Bürger und Anneliese Wasilewski, die noch einmal in die Wohnung ihrer Kindheit zurückdurfte - weil eine Gruppe von Künstlern sie vor dem Abriss bewahrt hat. Es war der 22. August 2009, und spätestens nun, am Tag des ersten Jubiläums, weiß man: Dieser Tag hat Hamburg verändert. Weil sich nicht nur die Künstler, sondern eine ganze Stadt gegen die Politik ihrer Behörden durchgesetzt hat, das kulturelle Erbe an irgendwelche Investoren zu verscherbeln. So sollte es auch mit dem Gängeviertel geschehen. "Aber dass meinen alten Eierhof noch einmal so viele junge Leute besuchen kommen, das hätte ich auch nicht gedacht", sagt Anneliese Wasilewski. Ihr Blick folgt den Kindern, die gerade zur großen Schnitzeljagd loslegen - auch an die Kleinsten hatte man im Jubiläumsprogramm gedacht.
Hunderte Hamburger hatten sich aufgemacht, um mit den Künstlern zu feiern, und die hatten ihr Viertel herausgeputzt wie eine Wohngemeinschaft vor dem angekündigten Elternbesuch. Jedes Haus stand offen, man konnte Siebdruckern bei der Arbeit zusehen, Musik hören, Ausstellungen besuchen oder einfach nur Kaffee trinken; in der Schierspassage feierte ein kleiner Gemüseladen Eröffnung - die Jette, benannt nach der wohl bekanntesten Gängeviertlerin. Von dieser Woche an werden drei Künstler hier täglich Lebensmittel aus der Region verkaufen, sie sind das beste Beispiel für die Vielfältigkeit der Ideen, die im Kollektiv der Künstler entstanden sind. Viele von ihnen haben sich im vergangenen Jahr finanziell ruiniert, weil sie lieber kämpfen wollten als zu schweigen, und langsam ernten sie die Früchte ihrer Arbeit. Das wichtigste Projekt, das wurde am Wochenende deutlich, ist die alte Fabrik. Hier soll ein Ort entstehen, an dem sich freie Künstler begegnen und miteinander arbeiten, "denn für freie Tänzer oder Theaterschaffende gibt es einfach keine Räume in Hamburg", sagt Hannah Kowalski, eine freie Dramaturgin. Schmal wirkt sie in dem riesigen Raum, in dem bald Tänzer ihre Körper strecken werden.
Wochenlang haben die Künstler hier geputzt und gespachtelt, geschliffen und lackiert. Wunderschön sieht die alte Fabrik nun aus. "Klar, das hier hätten auch tolle Lofts werden können", sagt Kowalski, das Konzept dieses Orts stammt von ihr. "Aber wenn ich mir jetzt vorstelle, dass diese Räume Dutzende Existenzen retten können, dann ist das einfach so viel mehr ..." Doch nicht nur Künstler sollen hier wirken, die Fabrik soll ein Ort für alle werden, ein freier Raum mitten in der City, für jedermann zugänglich, mit Kindermalstunden und Swingabenden für Senioren. Wäre doch vielleicht auch etwas für Anneliese Wasilewski.