Der Musikwissenschaftler Detlef Altenburg erklärt die Funktion kultischer Rituale von der griechischen Antike bis hin zu Heavy-Metal-Konzerten.

Hamburg. Die Welt blickt einmal wieder nach Bayreuth dieser Tage, es wird musiziert, gesungen, gespeist und geraunt. Die Kanzlerin ist auch da. Aber warum eigentlich? Warum gibt es Festspiele, und warum ist es so wichtig, sich dort sehen zu lassen? Der Weimarer Musikwissenschaftler Detlef Altenburg hat sich mit dieser Frage beschäftigt - und Antworten gefunden, die nicht nur für die Oper gelten, sondern auch für Heavy-Metal-Konzerte.

Hamburger Abendblatt:

Herr Professor Altenburg, warum sind Festspiele noch immer so wichtig?

Prof. Dr. Detlef Altenburg:

Offenbar steht dahinter ein menschliches Urbedürfnis. Schon in der griechischen Antike gab es im Zusammenhang mit dem Dionysoskult Theaterfestspiele. Da kam die gesamte Polis von Athen zusammen. Man saß beieinander, hatte Wein und Oliven dabei und sah ein Stück nach dem anderen. Ein Zustand übrigens, von dem heutige Festivalorganisatoren nur träumen können.

Aber damals gab es auch noch keine Theater oder Opernhäuser mit regelmäßigen Spielplänen, geschweige denn Tonträger. All das hat man heute. Welche Funktion haben Festspiele da noch?

Um das zu beantworten, muss man ins 19. Jahrhundert zurückgehen. Da sind ja die großen Musikfeste im mitteldeutschen Raum entstanden, Frankenhausen, erst später kam Bayreuth, im 20. Jahrhundert dann Salzburg; und es fällt auf, dass sie in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs entstanden, als der Lebensrhythmus der Kirche an Bedeutung verlor. Die Französische Revolution hatte tiefe Spuren hinterlassen. Sie leitete eine Phase der Unruhen ein, Werte, die lange Zeit als verlässlich galten, wurden plötzlich infrage gestellt.

Einen gesellschaftlichen Umbruch haben wir heute auch.

In der Tat. Und genau deshalb ist es so spannend zu beobachten, dass in den letzten zehn bis 15 Jahren ein Festival nach dem anderen aus dem Boden schießt. Das muss ja irgendwo seine Ursachen haben. Eigentlich müsste man ja meinen, dass in Zeiten von Hartz IV und Bankenkrise niemand mehr Geld für Kultur hat. Doch man trifft dort nicht nur die Reichen und die Schönen, sondern eine sehr breite Bevölkerungsschicht.

Sie meinen, es fahren tatsächlich noch Menschen nach Bayreuth, weil sie sich für die Musik interessieren? Und nicht nur, um gesehen zu werden?

Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Aber ich finde, diesen gesellschaftlichen Aspekt sollte man gar nicht wegdiskutieren. Das gehört zu solchen Events dazu. Die Kunst ist nun einmal ein von gesellschaftlichen Bedürfnissen geleitetes Phänomen. Aber gehen Sie mal in Bayreuth zu einer öffentlichen Generalprobe oder den regulären Aufführungen. Dort treffen Sie nicht nur Banker oder Professoren, sondern auch Rentner und Studenten, die ein ganzes Jahr an der Tankstelle gejobbt haben, nur um einmal dabei sein zu können. Und das, ganz ehrlich, imponiert mir jedes Jahr wieder.

Warum ist eigentlich ein Festival so relevant, bei dem Jahr für Jahr dieselben Stücke gespielt werden und gar keine neuen hinzukommen?

Es ist schon erstaunlich, dass ein so vergleichsweise schmales Potenzial von Werken eine Gesellschaft über mehr als 125 Jahre beschäftigt. Das ist an sich ja schon ein Phänomen. Ich denke, dass dahinter Wagners gelungener Versuch steckt, Welterklärungsmodelle anzubieten - und mit seiner Musik auch Visionen. Und das macht neben der Musik dann eben auch den Reiz von Bayreuth aus, dass man sich dort mit einer gewissen visionären Begabung mit den ganz großen gesellschaftlichen Themen auseinandersetzt. In den Bayreuther Inszenierungen spiegeln sich Antworten auf ganz aktuelle Fragen unserer Zeit.

Sagt Ihnen das Wacken Open Air etwas?

Das ist doch dieses Festival für Rockmusik in Schleswig-Holstein, oder?

Genau.

Ja, davon habe ich gehört. Und ich finde es sehr spannend zu sehen, dass es auch in diesem Bereich Festspiele gibt, wo man eine Kontinuität gar nicht für möglich gehalten hätte. Das Boomen von Festivals ist unabhängig davon, ob Geld im Überfluss da ist. Und deshalb müssen wir unbedingt im Bewusstsein der Politiker verankern: Unsere Kultur besteht aus mehr als Aktienkursen, Profitmaximierung und Tagespolitik. Festspiele sind nichts, das man einfach wegrationalisieren kann. Das schädigt die Gesellschaft. Egal, ob Wacken, das Schleswig-Holstein Musik Festival oder Bayreuth.