Auf der Suche nach dem echten Totenschädel des Poeten haben Forscher jetzt Gebeine seiner Nachfahren exhumiert.

Hamburg. Man hatte die Öffentlichkeit nicht informiert, denn die Aktion sollte möglichst unauffällig ablaufen: Am 7. März fuhren mehrere Fahrzeuge vor dem Stuttgarter Fangelbachfriedhof vor. Werner Koch, der Leiter des Stuttgarter Friedhofsamts, führte einige Wissenschaftler und ein Fernsehteam des Mitteldeutschen Rundfunks an jene Stelle des 1823 angelegten historischen Gräberfelds, an der Schillers ältester Sohn Carl Friedrich Ludwig vor 150 Jahren beigesetzt worden war. Nachdem Friedhofsarbeiter das Familiengrab behutsam geöffnet hatten, stellten die Anwesenden fest, dass sich die Gebeine des Dichter-Sohns noch in recht gutem Zustand befanden. Gefunden wurden auch die Skelette von Carl Friedrich Ludwigs Ehefrau Mathilde und ihrem Kind. Nachdem die Gerichtsmediziner Genmaterial entnommen hatten, verschlossen die Friedhofsarbeiter das Grab wieder. Wenig später erinnerte nichts mehr an die kurzzeitige Störung der Totenruhe.

Bereits 2006 und 2007 hatte es im thüringischen Meiningen, wo sich das Grab von Schillers Lieblingsschwester Christophine Reinwald (1757-1847) befindet, und auf dem Alten Friedhof in Bonn ähnliche Aktionen gegeben. In Bonn exhumierten Wissenschaftler aus Freiburg und Berlin die Gebeine der Ehefrau Charlotte von Schiller und ihres zweitältesten Sohnes Ernst Friedrich Wilhelm, um ihnen ebenfalls Genmaterial zu entnehmen. Nur im schwäbischen Gerlingen, wo Schillers Vater und seine jüngste Schwester beigesetzt sind, standen die Wissenschaftler sozusagen vor verschlossenen Friedhofstüren. Wilfried Braun, als evangelischer Gemeindepfarrer für den Friedhof zuständig, erklärte nur knapp, die Bewahrung der Totenruhe sei höher zu veranschlagen als jedes wissenschaftliche Interesse.

Was macht das die Knochen von Friedrich Schillers nächsten Angehörigen gerade jetzt, ein Jahr vor seinem 250. Geburtstag, für die Wissenschaft so interessant? Die Antwort darauf ist in Weimar zu finden, in der sogenannten Fürstengruft, wo die beiden Dichterheroen Goethe und Schiller ihre letzte Ruhestätte haben. Das antikisierende Mausoleum auf dem Historischen Friedhof, das der bedeutende klassizistische Architekt Clemens Wenzeslaus Coudray für Deutschlands berühmteste Dichter 1827 erbaut hat, wirkt zwar ungemein würdig, war aber schon mehrfach Schauplatz veritabler Kulturkrimis: In der NS-Zeit wurden die Dichtersärge Ende 1944 auf Befehl des Jenaer Polizeipräsidenten in einen Bunker in Jena ausgelagert. Amerikanische Soldaten, die sie am 12. Mai 1945 zurück in die Fürstengruft transportierten, stahlen einige Knochen. Den Amerikanern folgten die Sowjets, die das weitere Schicksal der Dichter in die Hände der DDR-Behörden legten. 1961, 1963, 1970 und 1983 öffneten DDR-Experten Goethes Grab und führten 1970 unter strengster Geheimhaltung eine sogenannte Mazeration durch. Dabei verbrannten sie die Weichteile des Dichters und reinigten seine Knochen. Abgesehen von der DDR-typischen Geheimniskrämerei, mit der die Aktion durchgeführt wurde, verurteilen einige Wissenschaftler heute die Mazeration, während sie von anderen als ästhetische Maßnahme bezeichnet wird, die geeignet sei, die Würde des Toten zu bewahren.

Aber während man bei Goethe zumindest sicher sein kann, dass es sich tatsächlich um seine Gebeine handelt, ist das bei Schiller keineswegs klar. Mehr noch: Da in Schillers Sarg gleich zwei Schädel liegen, von denen allerhöchstens einer echt sein kann, besteht hier Klärungsbedarf. Immerhin dauert der Gelehrtenstreit um die Authentizität der sterblichen Überreste des unsterblichen Dichters inzwischen schon weit mehr als 100 Jahre an. Das hat die Klassik Stiftung Weimar dazu veranlasst, 2006 gemeinsam mit dem Landesfunkhaus Thüringen des Mitteldeutschen Rundfunks das Projekt "Der Friedrich-Schiller-Code" zu initiieren, das jetzt kurz vor seinem Abschluss steht. Unter Federführung renommierter gerichtswissenschaftlicher Institute wurde Genmaterial von Schillers engsten Verwandten gewonnen und analysiert. In die Untersuchungen, die u. a. im US Armed Force DNA Identification Laboratory Rockville und im Gerichtsmedizinischen Institut der Universität Innsbruck durchgeführt werden, konnten die Wissenschaftler u. a. auch drei Haarlocken einbeziehen, die sich im Besitz der Stiftung befinden und Schiller zugeordnet werden.

Warum es bis heute so schwer ist, Schillers Gebeine zu identifizieren, liegt an den fast unglaublichen Umständen seiner Beisetzung und den Ereignissen, die sich daran anschlossen: Als der Dichter am 9. Mai 1805 im Alter von 45 Jahren und sechs Monaten wahrscheinlich einer Lungenentzündung erlag, war er in Deutschland fast noch populärer als sein Dichterkollege Goethe. Umso erstaunlicher ist die schlichte, um nicht zu sagen würdelose Art seiner Beerdigung. Kurz danach kritisierte die Zeitschrift "Minerva": "Die Übereilung mit der Beerdigung, die durch keine warme Witterung notwendig gemacht wurde! Die äußerste Stille! Diese Mitternachtsstunde, wie bei dem Begräbnis eines an der Pest Verstorbenen! Dieser isoliert fortgeschleppte Sarg ohne alles Gefolge! Diese bestellten Handwerker, die in Weimar die Leiche eines Schillers zu Grabe tragen sollten."

Sogar der Eintrag im Totenregister war falsch: Carl Friedrich hat man dort als Vornamen geführt. Beigesetzt wurde Schiller, der nicht einmal ein würdiges Einzelgrab erhielt im Kassengewölbe auf dem Jakobsfriedhof. An ein gemeinsames Grab mit Goethe war zunächst keineswegs gedacht. Erst 22 Jahre später barg man auf Anweisung des Weimarer Bürgermeisters Lebrecht Schwabe seinen Schädel und seine Gebeine oder das, was man dafür hielt. Da aber außer Schiller noch weitere 63 Tote im Kassengewölbe beigesetzt worden waren, erwies sich die Identifikation von vornherein als Glücksspiel. Es ist überliefert, dass damals 23 Schädel aus der Gruft geborgen wurden. Man platzierte sie auf einem Tisch, begutachtete und verglich sie mit Schillers Totenmaske. Am Ende der Aktion, über die alle Beteiligten zum Schweigen verpflichtet waren, zeigte Schwabe auf den Totenkopf, der ihm am größten und würdigsten erschien, und sagte: "Das muss Schillers Schädel sein."

Wenig später regte Großherzog Karl August an, dass Schillers Schädel, "statt in die verhüllende und zerstörende Erde versenkt zu werden, lieber für immer auf der Bibliothek in einem besonderen, anständig eingerichteten Behältnis aufbewahrt würde". So wurde der Kopf des Toten am 17. September 1826 in einer Feierstunde der Fürstlichen Bibliothek übergeben.

Nur acht Tage später ließ Goethe, der von Amts wegen den Schlüssel zur Bibliothek besaß, den Schädel in sein Gartenhaus am Frauenplan bringen. In der Nacht vom 25. zum 26. September 1826 schrieb der Dichterfürst die Terzinen "Bei Betrachtung von Schillers Schädel". Merkwürdig, dass Goethe, der große Scheu vor dem Tod hatte, bei jeder Beerdigung unentschuldigt fehlte und nicht einmal zur Beisetzung seiner Frau Christiane erschienen war, den Schädel seines Dichterfreundes monatelang auf blauem Samt unter einer Glasglocke bei sich aufbewahrte. Wilhelm von Humboldt, der im Dezember 1826 Gast im Haus am Frauenplan war, schrieb an seine Frau: "Heute Nachmittag habe ich bei Goethe Schillers Schädel gesehen. Goethe und ich - Riemer war noch dabei - haben lange davorgesessen, und der Anblick bewegt einen gar wunderlich."

Erst ein Jahr später wurden Schillers Gebeine in die Fürstengruft überführt. Doch Zweifel an der Echtheit blieben. 1883 erklärte der Hallenser Anatom Hermann Welcker nach längerer Untersuchung den Schädel für unecht, da er nicht zur Totenmaske passe. Prompt bestritt sein Bonner Kollege Hermann Schaafhausen Welckers Forschungsergebnisse. 1911 nahm sich schließlich der Anatom August von Frohriep noch einmal die im Kassengewölbe verbliebenen 63 anderen Schädel vor. Nach eingehender Prüfung wählte er einen davon aus und erklärte ihn zu Schillers echtem Schädel. 1914 wurde er ebenfalls in Schillers Sarg gelegt.

Wahrscheinlich haben die Forscher des "Friedrich-Schiller-Code"-Projekts mithilfe modernster gentechnischer Methoden das Geheimnis inzwischen gelüftet. "Wir wissen, dass wir zu einem eindeutigen Ergebnis kommen werden", sagte kürzlich eine Sprecherin dem Magazin "Focus". Ist einer der beiden Schiller-Schädel nun echt, und wenn ja, welcher? Die Ergebnisse sollen Anfang Mai bekannt gegeben werden. Dann strahlt der MDR seine Dokumentation aus.