Die Journalistin Carolin Emcke erzählt in “Wie wir begehren“ die Geschichte ihrer Jugend und die eines lesbischen Coming-outs.

Hamburg. Das Hingezogensein zu einer bestimmten ästhetischen Erscheinung oder einem gewissen körperlichen Ausdruck kann die frühe Vorgeschichte einer späteren Ausprägung sein. Für die Schülerin Carolin Emcke sind es die Balletttänzer in der Hamburgischen Staatsoper, die einen großen Reiz auf sie ausüben. Sie besucht mit ihrer Mutter die Inszenierungen John Neumeiers und bewundert Ronald Darden sowie Max Midinet: ihre Athletik, vor allem ihr Verharren im geschlechtlichen Dazwischen. Die Teenagerin durchlebt ihre Pubertät in den 80er-Jahren, sie interessiert sich für Jungs und stellt nun fest: Die heterosexuelle Welt mit ihren klaren Grenzen entspricht nicht der Realität.

Carolin Emcke, Jahrgang 1967, hat ein viel beachtetes, sehr persönliches Buch geschrieben, das von einer Jugend in einer noch gar nicht so entfernten Vergangenheit berichtet. In "Wie wir begehren" wird außerdem die Geschichte eines Coming-outs erzählt. Aus der Perspektive einer selbstbewussten Frau, die ihren Werdegang als sinnliche Erfolgsgeschichte schildern kann. Vielleicht auch, weil sie ihre Neigung, oder besser und in Emckes Wortwahl: ihr Begehren, erst mit 25 und verhältnismäßig spät entdeckte.

Über Homosexuelle in unserer Gesellschaft zu sprechen, das heißt wohl teilweise immer noch, über die Toleranz oder das Selbstverständnis dieser Gesellschaft zu sprechen. Im Hinblick darauf hat sich viel getan: Schwule und lesbische Paare können heute heiraten, in etlichen Bereichen, auch der Politik, machen Homosexuelle Karriere.

Emckes geschickt arrangierte Erinnerungen werfen Spotlights auf die ihre persönliche Geschichte umrahmende allgemeine. Emcke wuchs in einer Zeit auf, die erst langsam die Fesseln der Homophobie abstreifte. Es war noch nicht lange her, dass Homosexualität kriminalisiert wurde (§ 175 des Strafgesetzbuchs wurde erst 1994 gestrichen). Es gab inoffizielle "rosa" Listen, auf denen die Polizei die Namen gleichgeschlechtlich Liebender sammelte. Und erst mit dem Ausbruch der Immunschwächekrankheit Aids und dem Auftreten der "Gay Pride"-Bewegung rückten die Schwulen ins öffentliche Bewusstsein. Das war Anfang der 80er-Jahre.

Vorher? Waren Schwule und Lesben gut gehütete Geheimnisse. "Über Homosexuelle wurde in meiner Kindheit nicht geredet. Sie existierte, es gab Menschen, die waren homosexuell, aber sie tauchten für uns Jugendliche nie auf, nicht im Realen und nicht im Fiktionalen, sie wurden nie sichtbar, zumindest nie als Homosexuelle", schreibt Emcke.

In dieser Zeit, als Schwule noch in einem Paralleluniversum lebten, macht die Schülerin Carolin die Bekanntschaft eines Mitschülers. Der wird, ohne dass es dafür wirkliche Gründe gibt, erst zum Außenseiter und begeht dann, als er aus dem Sichtkreis der Erzählerin fast schon verschwunden ist, Selbstmord. Emcke berichtet in ihrem Buch auf ihre ruhige, beharrlich um die neuralgischen Punkte kreisende Weise von diesem viel zu kurzen Leben. Vor seinem Freitod soll der Mitschüler, dessen Schicksal leitmotivisch Emckes Text durchzieht, mit einem Mann gesehen worden sein. Emcke sieht sich, im Nachhinein, als seine Anwältin - und sein Unglück als Paradigma für die Schattenexistenz vieler Homosexueller.

Carolin Emcke ist eine vielfach preisgekrönte Journalistin ("Die Zeit", "Der Spiegel"). Ihre besten Reportagen schreibt sie über den Nahen Osten. Dort leben Homosexuelle immer noch auf der Nachtseite der Gesellschaft. Die Bekanntschaft Ibrahims, eines offensichtlich schwulen jungen Mannes, dient Emcke als Kontrastbild zum fortschrittlichen Westen: Dessen Codes gelten nicht in Nahost, wo Homosexualität lebensgefährlich ist.

So irreal Homosexualität heute in Gaza ist, so heimlich spielte sie sich noch in den 70ern in Deutschland ab. Es ist diese Tabuisierung, deren Ausläufer man auch heute noch beobachtet. Die von Emcke genüsslich und gleichzeitig wütend geschilderte Hochzeitsepisode spiegelt ganz gut die Ausgrenzung, mit der Homosexuelle leben müssen: Auf der sehr bürgerlichen Veranstaltung "Hochzeit", zu der Emcke eingeladen ist, gibt es tatsächlich einen "Tuntentisch". Soll das tolerant sein? "Wie gut gemeint wäre es gewesen, hätte es einen solchen Tisch für Schwarze gegeben", fragt sich Emcke; sie fühlt sich durch die Sitzordnung "markiert".

Selbst wenn sich Emcke kämpferisch für die Normalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen einsetzt, steht am Ende immer auch die ganz persönliche Verwunderung darüber, die eigene Homosexualität erst relativ spät entdeckt zu haben. "Wie wir begehren" ist ein Text über die Wege der Liebe, von denen keiner irrt; ein Text gegen das Schweigen über das Begehren.

Carolin Emcke: "Wie wir begehren". S. Fischer. 256 Seiten 19,99 Euro