Eine Leseerfahrung von Thomas Andre
"Die neue Bekenntnisliteratur" wird seit einiger Zeit immer mal wieder spöttisch aufs Korn genommen. Der wenig geneigte Leser fühlt sich bedrängt von den intimen Geständnissen der Buchautoren, die über ihre Krankheiten, privaten Katastrophen oder einfach ihr Leben schreiben. Seltsamerweise scheint es ganz schön viele zu geben, die gar keine Lust auf die Schlüssellochperspektive haben: Seltsam deswegen, weil doch eigentlich jeder die Schaulust kennt und auch auslebt. Ist es vielleicht so, dass wir den Seelenexhibitionismus eines Rudi Assauer deswegen so aufdringlich finden, weil wir anlässlich der Veröffentlichung seines Alzheimer-Buches multimedial mit seinem bedauernswerten Schicksal konfrontiert wurden?
Bekenntnishaft ist, in gewissem Maße, jede Autobiografie. Einsichten in das Leben eines Menschen zu bekommen, das natürlich nicht nur Leiden ist, ist zunächst einmal interessant. Sei es, weil er ein exemplarisches Leben führt oder ein außergewöhnliches. Oft, wie im Falle der schicksalhaften Erzählungen von Erkrankungen, sind die sehr persönlich gehaltenen Sachbücher wichtig für Betroffene. Und selbst wenn der eigene Erfahrungsschatz mit dem fremden nichts zu tun hat, kann eine Lektüre wie die des optimistischen Coming-out-Buches von Carolin Emcke sehr erhellend und gewinnbringend sein.