Nicolas Winding Refns viel gelobter Thriller “Drive“ mit Ryan Gosling in der Hauptrolle ist ein grandioses, irritierendes Kinodrama.

Hamburg. Es gibt diese eine Szene in dem Film "Drive", in der sich größte Romantik und härteste Brutalität auf dem engen Raum eines Fahrstuhls verdichten. Der Protagonist küsst seine Geliebte. Ganz ungeniert dimmt die Regie das Licht, um die Resopaltristesse des Lifts mit der Magie des Moments aufzuladen. Im Anschluss zertritt der Mann einem Gangster, der ebenfalls mitfährt, den Schädel. Die golden schimmernde Satinjacke, von der Hauptfigur die gesamte Geschichte über wie eine sehr stylische Schutzweste getragen, ist von diesem Moment an mit Blut besudelt. Es wird weiteres von anderen Menschen folgen. Der Skorpion, groß auf die Rückseite des modischen Markenzeichens gestickt, hat zugestochen. Und die Gewalt, das eine Extrem der Handlung, hat sich der Liebe, dem anderen Extrem, offenbart. Ein Sündenfall.

Schon lange hat kein Film mehr die Pole der menschlichen Natur mit einem derart zwingenden Stilwillen und fast schon fetischistischem Kamerablick ausgelotet. "Drive", das Werk des dänischen Regisseurs Nicolas Winding Refn, ist wie eine Variante von "Pulp Fiction", in der die Ironie durch den Glauben an die eine Liebe ausgetauscht wurde. Kraftzentrum der Story ist Shooting Star Ryan Gosling, der als namenloser Fahrer für Hollywood-Produktionen arbeitet, unter der Hand jedoch Fluchtwagen für Verbrecher lenkt. Er ist der Typ, der stoisch seinen Job macht und nicht urteilt. Weder in der Welt des cineastischen Scheins noch in der des gesetzeswidrigen Seins. Als er seine Nachbarin Irene (wie immer toll: Carey Mulligan) und deren kleinen Sohn kennenlernt, lautet seine Selbstcharakterisierung knapp: "I drive."

Die Langsamkeit, mit der Refn vor allem in der ersten Hälfte erzählt, verleiht dem Film eine immense Intensität. Blicke ersetzen Worte, Kamerafahrten visualisieren Emotionen. Äußerst sparsam schneidet Refn lediglich einige rasante Verfolgungsjagden gegen den Sog des Entschleunigten. Dass ausgerechnet diese wenigen Szenen in den Trailer gelangten, mag dem Streben der Filmfirma geschuldet sein, einen Arthouse- und Genrefilm als Mainstream zu verkaufen. Immerhin sind mit Bryan Cranston ("Breaking Bad") und Christina Hendricks ("Mad Men") sowie den Altgardisten Albert Brooks ("Taxi Driver") und Ron Perlmann ("Der Name der Rose") auch die Nebenrollen mit exzellenten Schauspielern besetzt. Der schmissige Trailer zu "Drive" führte in den USA zu einer bizarren Klage. Eine Frau aus Michigan hatte einen hochtourigen Actionfilm im Stile der "The Fast and the Furious"-Reihe erwartet und verlangte ihr Geld zurück, weil die Filmvorschau in die Irre führe.

Tatsächlich wirkt "Drive" wie die Antithese nicht nur zu populären Tuningstreifen, sondern auch zur verbalen Dauertherapie eines Woody Allen, in der jedes Gefühl dutzendfach analysiert wird. Den hypnotischen Effekt der Bilder unterstützt zudem der Soundtrack, der aus den grandiosen Synthesizer-Kompositionen von Cliff Martinez besteht, aber auch gezielt Vokalnummern einsetzt. Wie ein Leitmotiv des Films wirkt der schwelgerische Song "A Real Hero" von College feat. Electric Youth.

Während "Zeit" und "Spiegel Online" über das Phänomen des weinerlichen, passiven Mannes diskutieren, übernimmt in "Drive" einer die Verantwortung. Bis zum bittersten, brutalsten Ende. Und sei es um den Preis, für den kleinkriminellen Ehemann der Angebeteten einzustehen. An dieser Stelle unterscheidet sich "Drive", auch wenn die Hauptfigur den Beschützerfilm fährt, von einer althergebrachten Macho-Attitüde. Denn ein konventionelles Alphatier hätte sich kaum auf dieses familiäre Patchwork-Modell eingelassen. Es ist dem Schauspiel Goslings zu verdanken, dass der Anti-Held bis zum Schluss sanftmütige Wärme und die Kälte des Killers in sich vereint. Eine Komplexität, die einen irritiert zurücklässt.

Ein weiterer Aspekt, der den Betrachter in der Schwebe hält, ist der zeitlose Charakter des Films. Zwar verweisen sowohl Musik als auch die pinkfarbene Typografie in Vor- und Abspann auf die 80er-Jahre. Und auch die überinszenierte Coolness mancher Szene wirkt wie die urbane Fantasie eines alten "Bravo"-Posters. Telefoniert wird indes mobil, wenn auch kurz. Ansonsten zeigt "Drive" kaum zeitgenössisches Gerät. Das mediale Grundrauschen dieser Tage, es existiert kaum. Die Spannung allerdings, die pulsiert konstant.

++++- Drive USA 2011, 101 Min., ab 18 J., R: Nicolas Winding Refn, D: Ryan Gosling, Carey Mulligan, täglich im Cinemax, Streit's (OF), Studio-Kino, UCI Othmarschen/Smart-City, Zeise; www.drive-film.de www.drive-film.de