Thalia-Intendant Joachim Lux über die Zukunft und Verantwortung einer Bürgerkultur
Hamburg. "Better City, better life" - ein Slogan, der gut zu Hamburg passen würde. Eine Frage, die sich allerorten stellt, zu der von der Stadtarchitektur bis zur Pflege im Umgang mit Kulturinstitutionen oder Fragen der Schulreform vieles gehört - vieles, was sich politisch und kulturpolitisch mit Macht in den Vordergrund drängt. Wie wollen wir leben? Wie unser Wohnzimmer, die eigene Stadt gestalten? Fragen, die die Bürger bewegen und gelegentlich sogar "in die Gänge bringen".
"Better City, better life" ist derzeit Motto und Vision einer Stadt, die zehnmal so groß ist wie Hamburg. Es ist der zentrale Slogan der Expo 2010 in Shanghai - einer Stadt, in der 18 Millionen Menschen leben, in der die Hochhäuser zu Hunderten in den Himmel wachsen, in der ein zehnstöckiges Wohnhaus angesichts des 500 Meter hohen Towers gleich nebenan wie ein kleines Einfamilienhaus wirkt. Man stelle sich vor, man würde dort (und nicht in der Gartenstadt Hamburg), in diesem unvorstellbar vital wuchernden Rhizom, die Frage nach der Zukunft einer Bürgerkultur stellen. Taugt der Begriff des Bürgers da überhaupt noch? Verschwindet das Individuum da nicht restlos in der Masse? Macht es da überhaupt noch Sinn, nach einer das Gemeinwesen gestaltenden Kraft von städtischer Kultur, von Stadtarchitektur, Versammlungsplätzen, Theatern und Konzerten zu fragen?
Wir leben weltweit zweifellos mitten in einem gewaltigen Wechsel, voller Dynamik, die unser aller Leben radikal verwandelt, auch in Deutschland, auch in Hamburg, obwohl Europa im Verhältnis zu solchen Gesellschaften tatsächlich eine putzige Puppenstube ist. Trotzdem haben wir die gleiche Frage: "Better City, better life" - wie geht das?
Ich denke, es geht bei der Zukunft der Bürgerkultur um zwei zentrale Stichworte: Partizipation und Öffnung.
Partizipation bedeutet, dass wir alle vielmehr als früher aufgerufen sind, unsere Städte mitzugestalten, egal, ob es um einen Wiederaufbau des Berliner Schlosses geht, um einen repräsentativ-symbolischen Bau wie die Elbphilharmonie, um den Bau einer riesigen Moschee in Köln, um die Rettung eines Kleinods historischer Stadtarchitektur wie beim Gängeviertel oder anderes. Die Wachheit hierfür wächst, die Debatte über diese Dinge schwillt an. Sie ist eine riesige Chance zu neuer Gemeinsamkeit, eben weil alle daran teilhaben.
Das betrifft aber auch die Kultur im engeren Sinne, wo etwa in Hamburg ein großer Proteststurm gegen die vorübergehende Schließung der Galerie der Gegenwart zu verzeichnen war. Oder aktuell bei der Altonaer Fabrik. Ich bilde mir ein, dass die Intensität solchen Engagements neu ist und über Einzellobbyismus hinausgeht. Das alles nutzt aber nur etwas, wenn wir die städtische Kultur gemeinsam auch beleben, etwa indem jetzt Tausende von Hamburgern mit ihren Familien auch mal in die Galerie der Gegenwart gehen und sich mit den Werken tatsächlich beschäftigen. Insofern ist jede Krise eine Chance zu Teilhabe und Engagement.
Auf symbolischer Ebene haben wir im Thalia-Theater Partizipation möglich gemacht: Indem wir zum Beispiel die Bürger einluden, "ihr" Theater für einen Abend in Besitz zu nehmen, dem Zuschauer freistellten, so viel für einen Theaterbesuch zu zahlen, wie es ihnen "wert ist". Eine aufregende Debatte und zugleich Lackmustest für die Akzeptanz von Theater. Wir werden derlei Aktivitäten fortsetzen, Initiativen und Aktionen, um aus einer von Spezialisten verwalteten Kunst oder Kultur, die den Einzelnen zum Konsumenten macht, zu Mitgestaltung zu kommen.
Der zweite Punkt ist der der Öffnung. Für die Bürger der Stadt und nicht nur für das Bürgertum.
Früher war mal der Slogan "Theater für alle" beliebt, eine romantische Illusion, denn ein Staatstheater ist im Unterschied zum Fußballstadion in der Tat nur selten für alle da. Zu sehr steht dem ein gewisser Kunstanspruch entgegen, auf den sich tatsächlich nicht alle einigen können. Und doch gilt es, zumindest in diese Richtung zu arbeiten. Und uns besonders für jenes Viertel bis Drittel der Bevölkerung zu öffnen, das keine deutschen Wurzeln hat. Unsere städtische Lebensrealität ist seit Jahrzehnten immer internationaler geworden. Und doch agieren wir immer noch mit Begriffen und Realitäten wie "Parallelgesellschaft", "Leitkultur" und ähnlichem. In der Kultur bildet sich diese multi- oder interkulturelle Gesellschaft nur sehr ungenügend ab, man muss selbstkritisch sagen: auch nicht im Thalia. An einem einzigen Abend der zu Ende gehenden Spielzeit ist dies gelungen: bei der "Langen Nacht der Weltreligionen", aber dies bleibt meist singulär, ebenso wie der Laeiszhalle vermutlich mit einem türkischen Abend kein Zuwachs von Publikumsschichten gelungen ist.
Unsere gesellschaftliche Alltagskultur ist, trotz vieler, auch massiver Probleme, oft interkulturell, unsere Hochkultur - die Theater, die Museen, die Konzerthallen - sind es nicht: ein eigentlich blamabler Zustand. Und eine große Aufgabe. Kaum jemand, der den Zuwachs an Internationalität in unseren Stadtgesellschaften nicht als Bereicherung empfinden würde. Die Tatsache, dass die Frage, in welchem Abstand zum Boden sich ein in Hamburger Parks aufgestelltes Grillgerät befinden muss, überhaupt eine ist, mit der sich die Stadtverwaltung befassen muss, ist ein herrliches Zeichen dafür, dass wir alle längst von der interkulturellen Gesellschaft profitieren, Verhaltensschemata kopieren, vielleicht ohne stets zu bemerken, woher das eigentlich kommt.
Für das Theater bedeutet dies noch deutlicher als gewohnt, sich mit Stoffen nicht des Spezialistentums, sondern mit allgemeineren, größeren, mit archetypischen Stoffen und Themen zu befassen. Wir haben dies am Thalia in der letzten Spielzeit versucht, mit Themen von Reise, Aufbruch, Unterwegssein, mit interkulturellen und interreligiösen Fragen im Rahmen der Lessingtage, und wir setzen dies fort. Dennoch reicht das alles nicht, ist nur ein Anfang. Aber das Klima dafür ist da - allüberall. Ein Beispiel ist der Erfolg des Kosmopoliten Ilija Trojanow, mit dem sich das Thalia eng verbunden hat. Er ist davon überzeugt, dass Identität nicht durch Abgrenzung, sondern durch Öffnung, durch hybride Identitäten entsteht.
Eine künftige Bürgerkultur wird sich an solchen Modellen und Haltungen zur Welt messen lassen müssen, und es ist die Aufgabe von Politik und Kulturinstitutionen, auch des Theaters, diesen Ansprüchen auch tatsächlich zu entsprechen. Der Bürger der Stadtgesellschaft ist der Citoyen und nicht nur der Deutsche mit seinen nationalstaatlichen und regionalen Traditionen. Wenn das nur halbwegs gelänge, könnten wir mit Recht von "Better city, better life" sprechen.
Im Themenabend der Thalia-Freunde diskutiert Joachim Lux am Sonntag, 20 Uhr, mit Kultursenatorin Karin von Welck, Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse und dem Autor Mark Terkessidis über die "Zukunft der Bürgerkultur". Abendblatt-Chefredakteur Claus Strunz moderiert (geschlossene Veranstaltung)