Peter Mullan: Interview mit dem Regisseur über seinen Film “Die unbarmherzigen Schwestern“. Was denkt er über katholische Klöster, Priester, Gewalt und Sex?

Venedig. ABENDBLATT: Sie zeigen drastisch, was mit vier jungen Frauen in einem berüchtigten irischen Magdalenen-Klöster geschieht. Warum wirkt Ihr Film vor allem in katholischen Ländern wie Italien so schockierend?

PETER MULLAN: In diesen Klöstern wurde die Schwäche der dort eingeschlossenen Frauen ausgenutzt. Es ging nur ums Geschäft. Ganz vordergründig. Mich wundert, wenn mich jetzt die katholische Presse als Lügner oder Unruhestifter beschimpft. Denn ich habe diese Klöster nicht gebaut.

ABENDBLATT: Sind Sie selber katholisch aufgewachsen?

MULLAN: Ja, als Kind war ich von der Idee besessen, Gutes zu tun. In Afrika Lepra-Kranken zu helfen oder gegen den Hunger zu kämpfen. Und um meiner Mutter einen Gefallen zu tun, wollte ich Priester werden. Mir nach! Direkt in den Himmel. Zur Rettung unserer Seelen! Also bin ich als Elfjähriger vier Tage lang ins Kloster gegangen, bis ich mich unsterblich in die Tochter eines Nachbarn verliebte. Meine Hormone waren schon verdammt früh in Wallung. Das hat mich vor meinem Leben als Priester gerettet. Und als ich dann auch noch Marx entdeckte, war es endgültig aus mit der Religion.

ABENDBLATT: Hat der Sex Sie von der grenzenlosen Nächstenliebe geheilt?

MULLAN: Wahrscheinlich. Zum Glück habe ich schon mit 13 Jahren meine Jungfernschaft verloren. Danach war ich plötzlich so ruhig. Mit 15 Jahren hatte ich dann wirklich schönen Sex mit meiner Freundin, während meine unbefriedigten Mitschüler die Wände hochgingen, weil ihnen das Testosteron zu Kopfe stieg. Da ich solche Probleme nicht hatte, konnte ich auch anfangen zu studieren. Aber die katholischen Schuldgefühle habe ich dann noch lange mit mir rumgeschleppt.

ABENDBLATT: Mit welcher Art von Priestern hatten Sie es als Kind zu tun?

MULLAN: Zum Glück hatten wir keinen pädophilen Priester wie viele andere Kinder. Unser Priester war eher ein typischer Vertreter: Er trank und rauchte zu viel. Eines Tages, als wir den Strom nicht mehr bezahlen konnten, wollte ich in der Kapelle Kerzen besorgen - so wie Julie im Film. Der Priester schnappte und verprügelte mich. Ich weinte, denn ich schämte mich zuzugeben, dass wir so arm waren.

ABENDBLATT: Ein prügelnder Priester - kein gutes Beispiel für Nächstenliebe?

MULLAN: Ich würde mich wundern, wenn die Priester auch heute noch so prügeln wie in den 60er- und frühen 70er-Jahren. Denn in dieser Zeit war die ganze Gesellschaft in Schottland und Irland sehr gewalttätig. Mir hat ein Typ mal eine Geschichte über seine Schule in Dublin erzählt. 1959 musste er am ersten Tag zum Schuldirektor, einem Priester, den die Schüler bloß das Monster nannten. Um dem möglichen Unruhestifter schon am ersten Tag eine Lektion zu erteilen, hat ihn der Direktor an einem Fußgelenk aus dem Fenster gehalten. Er hat aus Angst in die Hose gemacht. Das war eine Art, ihn auf die kommenden sieben Jahre Grundschule vorzubereiten - nur ein Beispiel für die Kultur der Gewalt in dieser Zeit.

ABENDBLATT: Warum war der Einfluss der katholischen Kirche besonders in Irland so stark, dass die letzten Magdalenen-Klöster erst 1996 geschlossen wurden?

MULLAN: Diese Klöster arbeiteten als Reinigung. Mit dem Aufkommen der häuslichen Waschmaschine in den 70er-Jahren waren sie immer weniger rentabel. In den 80er-Jahren erschienen die ersten Artikel über den Machtmissbrauch in diesen katholischen Institutionen und lösten Zeugenberichte aus.

Außerdem verlor Irland das Interesse an der Kirche, weil die Religion dem Kapitalismus im Wege stand. Irland war lange arm, erlebte dann einen wirtschaftlichen Aufschwung. Plötzlich ging es nur noch um die Jagd nach Geld. Mammon hatte Gott abgelöst.

Als die katholische Kirche Anfang der 90er-Jahre die Wäschereien schloss, hatte sie ein Problem: Sie konnte die Frauen nicht entlassen, die sie jahrelang von der Außenwelt abgeschirmt hatte. Die katholische Kirche lief Gefahr, dadurch schlechte PR zu bekommen. Wenn Tausende Frauen die gleichen schrecklichen Geschichten erzählen, wird die Öffentlichkeit hellhörig, oder?

ABENDBLATT: Wie hat damals die katholische Kirche reagiert?

MULLAN: 1993 wurde eine Fernsehsendung über katholische Waisenheime (dagegen wirken die Magdalenen-Stifte beinahe wie Ferienlager) gesendet, die eine Flut von Anrufen auslösten, in denen die Menschen die schrecklichsten Geschichten erzählten. Der Vatikan schickte einen Abgesandten, der diese Menschen befragte und zu dem Ergebnis kam: ,Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so einem Fall von Massenhysterie begegnet.' Eine reichlich mittelalterliche Entschuldigung.

ABENDBLATT: Warum haben Sie Ihren zweiten Film nach "Orphans" über diese Missstände gedreht?

MULLAN: Im Jahr 1999 bin ich beim Zappen auf einen Dokumentarfilm gestoßen, in dem eine Frau erzählte, dass man sie in einen katholischen Stift gesteckt hatte, weil sie zu hübsch war. Ich fragte mich, wer schließt Frauen weg? Ich entdeckte bei meinen Untersuchungen über das Schicksal viele junger Mädchen in den katholischen Institutionen, dass die Kirche wie ein großes Geschäft funktioniert. Das war für einen idealistischen Katholiken, der ich früher war, ein harter Schlag. Die Borgia-Skandale oder die Gerüchte um die Verstrickung des Vatikans mit der Mafia, die mögliche Ermordung von Johannes Paul I. - das alles finde ich längst nicht so zynisch wie das, was die katholische Kirche im Kleinen tut.

Mittlerweile werden die Opfer sexuellen Missbrauchs von der katholischen Kirche entschädigt, aber nicht die Opfer körperlicher Misshandlungen. Und die Frauen aus den Magdalenen-Stiften werden überhaupt nicht entschädigt, weil sie keine Kinder mehr sind.

ABENDBLATT: Können Filme wie "Die unbarmherzigen Schwestern" gesellschaftskritisch wirken und mit dem blinden Respekt vor kirchlichen Institutionen aufräumen?

MULLAN: Ich hoffe, dass sich aus dem Film etwas Konkretes ergibt. Etwa Entschädigung für die Frauen aus den Magadalenen-Stiften. Ich erwarte, dass die katholische Kirche mehr tut, als sich bloß zu entschuldigen. Denn die Kirche hat eine gefährliche Routine mit ihren Entschuldigungen. Noch vor über einem Jahr hat sich der Papst bei den Juden, den Protestanten und den Frauen entschuldigt. Wir wissen, was die Katholiken den Protestanten und Juden angetan haben. Jetzt werden auch die Frauen erwähnt. Sich zu entschuldigen ist zu einem leeren Ritual geworden. Das kann die Kirche noch bis zum letzten Tag tun. Jetzt muss sie ins Herz ihrer religiösen Struktur sehen und sich eingestehen, dass das Zölibat das 21. Jahrhundert nicht überleben wird.

ABENDBLATT: Hat die Enthaltsamkeit ausgedient?

MULLAN: Ja, denn die katholische Kirche zieht heutzutage nicht mehr die an, die sie immer haben wollte: die guten Jungs. Das Zölibat zieht eher Menschen an, die ein Problem mit ihrer Sexualität haben. Nach dem Motto: Ich habe ein Problem, vielleicht bin ich schwul - schnell Priester werden! Ich kann es verstehen. Aber wenn sie nach zehn Jahren Zölibat merken, dass sie aus den falschen Gründen Priester werden wollten, ist das höchst ungesund.

ABENDBLATT: Wie reagiert die katholische Kirche auf Ihren Film?

MULLAN: Sie interessiert nicht, ob der Film gute Kritiken oder Preise bekommt. Es ärgert sie, wenn viele Menschen den Film sehen. Ich will, dass möglichst viele Menschen den Film sehen. Nicht, damit ich daran verdiene. Ich habe noch mit keinem meiner Filme Geld verdient. Ich habe eine 12-jährige Tochter und weiß daher, wie zerbrechlich junge Mädchen sind. In Irland wurden Mütter unehelicher Kinder weggesperrt, in anderen Ländern werden sie gesteinigt. Daher wendet sich dieser Film gegen jede Form von religiösem Eifertum.

Der Film läuft ab heute im "Passage", Mönckebergstraße 17, Kartentelefon 32 41 39. Lesen Sie auch die Kritik in Hamburg LIVE, Seite 9.