Regisseur Dominik Graf beweist mit seiner Serie “Im Angesicht des Verbrechens“, dass großes Kino auf dem Bildschirm möglich ist.
Hamburg. Auf einen Satz kann man beim Smalltalk über Fernsehen wetten. Irgendeiner sagt immer: "Warum haben wir nicht so gute Serien wie in Amerika?" Haben wir. Man muss nur genau hinschauen. Etwa heute Abend, wenn auf dem Bildschirm kurz mal alle Sicherungen durchbrennen und Dominik Graf quasi im Alleingang das Fernsehen, wie wir es kennen, aus den Angeln hebt. Adieu Lehrbuchdramaturgie, auf Wiedersehen, ihr Formatlangweiler da draußen. "Im Angesicht des Verbrechens" heißt seine zehnteilige Miniserie, die Arte von heute an ausstrahlt und die ARD dann im Herbst. Und schon allein dieser Begriff - Miniserie - scheint absurd angesichts der schieren Überfülle wild pulsierender Szenen, weit verzweigter Erzählstränge, an Milieugenauigkeit und lebenspraller Figuren. "Im Angesicht des Verbrechens" ist vielmehr als ein 480-minütiges Epos. Es ist eine Art "Krieg und Frieden" aus dem Gegenwartsberlin.
Die Erzählfäden spannen sich vom ukrainischen Dorf bis in die nebulösen Untergrundsümpfe der Hauptstadt. Im Zentrum des multiethnischen Figurenensembles aus Russen, Deutschen, Türken, Polen und Rumänen stehen der junge Bereitschaftspolizist Marek Gorsky (Max Riemelt) und seine Schwester Stella (Marie Bäumer), die in die Russenmafia eingeheiratet hat. Wer gut und wer böse ist, das vermag niemand so genau zu sagen - was nicht nur für die Kleingangster und Obergangster gilt, sondern gleichermaßen für die Polizistenriege, die Huren und Barmänner und Lobbyisten. Jeder laviert herum im Grenzgebiet zwischen Recht und Unrecht; jeder will überleben - und das möglichst komfortabel; und die Grenze zur Illegalität ist immer näher, als man denkt. Wer moralisches Erbauungsfernsehen schätzt, ist bei Dominik Graf an der falschen Adresse. Er macht Filme ohne vordergründige Botschaft.
Modernisieren - das heißt im deutschen Fernsehen ja für gewöhnlich, den alten Landarzt durch einen jüngeren zu ersetzen. Der Hundepolizeiserie "Kommissar Rex" einen mediterranen Einschlag zu verpassen und sie von einem Sender zum nächsten zu verschieben. Graf verhält sich zu diesen pfadfinderbraven Einfällen wie der Tsunami zum Wassertröpfchen. Sein Geschmack ist geprägt von amerikanischen Vorbildern wie "The Wire" und "24", die mit herkömmlichen Seh- und Erzählgewohnheiten gebrochen haben; seine Zuneigung gilt Mafiadramen wie "Der Pate".
Zusammen mit seinem Drehbuchautor, dem Hamburger Rolf Basedow, hat er bereits in den Fernsehkrimis "Hotte im Paradies" und "Eine Stadt wird erpresst" den Blick auf ein rohes, faszinierendes Milieu gerichtet, auf Zuhälterseilschaften und den Polizeikrisenstab. Rückblickend erscheinen die Filme wie ein künstlerischer Vorgeschmack auf das neue Werk. Hier nun darf das kongeniale Duo endlich einmal so tief eintauchen in die Maschinerie des Polizeiapparats und die Strukturen organisierter Kriminalität, wie es ihnen in 90-Minuten-Denk- und Logik-Vorschriften bislang nicht gestattet war. Hier ist Platz für Träume und Kitsch und solche Szenen, die nicht unmittelbar dem Voranschreiten der Handlung dienen, aber der Atmosphäre, der Zuschauerfantasie oder auch einfach nur einer sinnlos-charmanten Idee, einem Lagerfeuertanz, einer langen nächtlichen Autobahnfahrt etwa.
"Im Angesicht des Verbrechens" verschlang 116 Drehtage, 150 Sprechrollen und trieb einen Mitproduzenten, Marc Conrads Typhoon Film, in die Insolvenz. Damit ist Graf erneut seinem Ruf als Enfant terrible der Branche gerecht geworden. Als Filmbesessener, der bereit ist, um jeden Satz, jede Einstellung, jeden Schnitt zu kämpfen wie die Löwenmutter um ihr Junges. Wer mit Graf arbeitet, gewinnt am Ende ziemlich sicher einen Grimme-Preis, verliert aber möglicherweise den Verstand. Qualität ist nun mal nicht zum Nulltarif zu haben - das gilt fürs Fernsehen wie für jede andere Branche. Der 57 Jahre alte Graf dreht, anders als seine Kollegen, nicht für ein bestimmtes Format; selbst seine Folgen für "Tatort" oder "Polizeiruf 110" sehen anders aus als gewöhnlich: radikaler, ungeschönter, ambitionierter vielleicht. Ob die Filme schließlich um 20.15 Uhr laufen oder weit nach Mitternacht, scheint ihm ziemlich egal. Primetime-Wellness ist ohnehin Grafs Sache nicht. Eher ein Grundunbehagen, das die Filme durchzieht und von unserer unbeständigen Gegenwart kündet.
Darüber, dass es "Im Angesicht des Verbrechens" nun auf den Bildschirm geschafft hat, kann man sich entweder uneingeschränkt freuen. Oder bedauern, dass dies eine Einzelerscheinung in der Fernsehlandschaft bleiben wird. Diejenigen Zuschauer, die das aktuelle Programm verschmähen und sich dem umfassenden Serienangebot aus den USA à la "Mad Men" zugewandt haben, werden heute Abend auf ihre Kosten kommen. Wem Sonntags-Pilcherfilme gefallen, die Soko-Serien des ZDF und solche, in denen Nonnen, Krankenschwestern und Affen eine Hauptrolle spielen, der wird wahrscheinlich nach wenigen Minuten entsetzt auf den Aus-Knopf der Fernbedienung hauen. Denn wie das Ganze schon losgeht: eine Wohnanlage wird gestürmt, zwei junge Ukrainerinnen werden ins Bordell verfrachtet, in der Russendisco geht die Party gerade richtig los - und immer steckt man beinahe körperlich mit drin.
Es wird gesoffen und geprügelt und geliebt. Die Figuren ernähren sich hauptsächlich von Wodka und Koks. Auch ästhetisch rebelliert Graf gegen herkömmliche Fernsehregeln und Zuschauergewohnheiten: Die Schnitte sind hart und mit dumpfen Beats unterlegt. Die Kamera stürzt aus dem Himmel in die jeweiligen Handlungsorte - das Restaurant Odessa, die Villa am See, das Polizeirevier -, als gelte es, die Trennung zwischen oben und unten aufzuheben. Die Erzählgeschwindigkeit nimmt einen dem Atem, aber folgen kann man doch ganz mühelos. Mehr intuitiv als mit dem Verstand. Graf blickt dem Leben direkt ins Auge - und fängt diese Momente mit der Kamera ein. Seine Art, Filme zu machen, hat viel zu tun mit Haltung. Und mit Mut. Beides ist selten im deutschen Fernsehen.
"Im Angesicht des Verbrechens" , heute, Arte, 22.05 Uhr (Folge 1) und 22.55 Uhr (Folge 2)