Glänzende Tänzer und erstklassige Musiker wurden zu Recht bejubelt. Aber es gab in der Inszenierung auch viel plakativen Leerlauf.

Hamburg. "Orpheus" unplugged an der Staatsoper. Mit einer umjubelten Uraufführung von "Orpheus" in sozusagen unverstärkter, aber wenig vertiefender Fassung, gelang John Neumeier ein Ballett, das mit unverkrampfter, ästhetisch reiner Bewegungssprache eine Menge Pluspunkte sammelte. Zudem gab es glänzend disponierte Tänzer und eine aufregende Musikcollage, erstklassig gespielt von den Philharmonikern unter Simon Hewett und dem Sologeiger Rüdiger Lotter. Dafür gab es zu Recht riesigen Beifall.

Das erklärte Ziel Neumeiers jedoch, von der Berufung eines Künstlers zu erzählen und dessen Mission, "durch Schönheit seiner Kunst Menschen zu einem inneren Frieden, zu einer Bewegtheit oder ganz einfach zum Staunen zu verhelfen", wurde verfehlt. Dafür werden die Abgründe und Schründe eines göttlichen Künstlers wie Orpheus, der hier vom zunächst gefeierten Mythos als Violinvirtuose zum fehlbaren Menschen von heute mutiert, denn doch zu kleinmütig behandelt.

Insofern ist "Orpheus" kein großer Wurf im Sinne von Bekenntnisballetten, wie Neumeier sie mit "Tod in Venedig", "Nijinsky" oder "Winterreise" schuf. Höhen und Tiefen, Leiden und Leidenschaften, Enttäuschung, Ruhm, Einsamkeit und Vergessen im Leben eines Künstlers werden hier so lapidar angerissen, dass das Erzählte exakt dem entspricht, was Neumeier inhaltlich angibt: "Es geht um einen Mann mit einer Geige und es geschieht jetzt."

Dieses Jetzt wird durch einen ohrenbetäubenden Krach beglaubigt, der Orpheus bei der Verbeugung nach einem Konzert vor feiner Gesellschaft aus dem Hochgefühl des Triumphs in Schockstarre versetzt: Ein Auto war zu Boden gestürzt, dem eine junge Frau entrollt. Tot. Mit diesem Unfall, der erstmals in der Geschichte von Orpheus und Eurydike die Todesursache von Eurydike benennt, beginnt das Leiden des Musikers Orpheus, der seine Geliebte aus dem Totenreich zurückholen möchte und sie durch sein Fehlverhalten erneut verliert.

Orpheus wird vor Schmerz unfähig, mit seiner Geige zu betören. Er ist seiner Kraft, seiner Magie beraubt durch den Verlust, den er erlitt, und wird von der Gesellschaft geächtet. Aber wir sind wenig beteiligt. Otto Bubenicek tanzt die anspruchsvolle Partie mit technischer Bravour, doch fehlt es ihm vorläufig an Reife und Tiefe. Kein Wunder. Er war kurzfristig für den verletzten Supertanzstar Roberto Bolle eingesprungen, für den Neumeier in erster Linie den Orpheus kreiert hatte. Bubenicek also war der Retter des Abends, was nicht hoch genug gelobt werden kann.

Hélène Bouchet, das ätherische Tanzzauberwesen als Eurydike, hatte ungleich mehr Zeit, sich mit ihrer Rolle vertraut zu machen. Sie berührte ganz unmittelbar in ihren Soli oder in den scheu und schön choreografierten Pas de deux mit Otto Bubenicek.

Die Chance aber, durch den Kontrast klug ausgewählter Musik wie Igor Strawinskys "Apollon musagète" und "Orpheus", die feinen Rosenkranz-Sonaten des Heinrich Ignaz Franz Biber und die Popsongs des Duos Peter Blegvad & Andy Partridge, neuerliche Reibungsflächen und ingeniöse Bildmomente zu schaffen, die durch die glühenden oder neblig trüben Bühnenbilder des Ferdinand Wögerbauer durchaus gegeben waren, hat Neumeier wenig genutzt. Dennoch gibt es magische Momente. Während Lotter Bibers wundervolle Passacaglia spielt, stellt sich eine direkte, berückende Verbindung zwischen Musik und Tanz ein. Der enorm gereifte Edvin Revazov als Orpheus' Vater Apollo verdeutlicht in einem Pas de deux mit dem Sohn dessen Berufung zum Künstler. Auch die vor Spannung und innerer Energie vibrierenden Bewegungen auf die rhythmische und sprachliche Kraft von "Noun Verbs" aus "Orpheus the Lowdown" im "Schattenreich" des zweiten Teils sind eindrücklich.

Ansonsten leider viel plakativer Leerlauf, bedeutsames Schreiten und dekorative Illustration um den heiligen Fetisch Geige. Stöckelnde Nutten und der auf einem Puff-Bett nach dem Tod Eurydikes vergeblich Entspannung suchende Orpheus reißen einen nicht von jenen Stühlen, auf die Neumeier gern mal seine Tänzer stellt.

Dennoch hat Neumeier viel gewagt und einiges gewonnen in diesem Ballett, das erklärtermaßen nicht gegen George Balanchines einzigartigen Ballettklassiker "Apollon musagète" antanzt, sondern einen gänzlich anderen Ansatz im Erzählen findet.

Eine Fotostrecke zu "Orpheus" finden Sie unter www.abendblatt.de/kultur-live