Das Ostfernsehen hatte der Konkurrenz von ARD und ZDF wenig entgegenzusetzen. Nur einer war besser: der Sandmann.
Er hat den Kalten Krieg, die DDR und seinen West-Kollegen überlebt, nun wird der Sandmann 50. Seine DDR-Herkunft hat er nie verleugnet und nie behauptet, ein Widerstandskämpfer gewesen zu sein. Trotzdem gilt er als sympathisch und integer. Wahrscheinlich war er nicht einmal SED-Mitglied, in der Birthler-Behörde gibt es keine Akte über ihn, sonst hätte er die Überprüfung für die dauerhafte Beschäftigung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen niemals überstanden. Das Sandmännchen ist zwar eindeutig ein DDR-Geschöpf, aber trotzdem unverdächtig. Der einzige Vorwurf, den ihm gehässige Zeitgenossen gemacht haben, bezieht sich auf seinen Bart. Der würde an den Spitzbart von Walter Ulbricht erinnern, was sich bei näherer Betrachtung als absurd erweist. Auch sonst gibt es keine Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem verhassten SED-Chef und Staatsratsvorsitzenden. Ulbricht sächselte, das Sandmännchen hat dagegen das gemacht, was die meisten DDR-Bürger getan haben: einfach den Mund gehalten.
Wahrscheinlich war das Sandmännchen der einzige wirkliche Sieg der DDR über den real existierenden Kapitalismus der Bundesrepublik. Das Ostfernsehen hatte zwar in der Konkurrenz gegen ARD und ZDF kaum eine Chance, das Programm war todlangweilig und gespickt mit politischen Phrasen, aber einmal am Tag ließ der Ostfunk das Westfernsehen so richtig alt aussehen.
Erinnern wir uns noch einmal an die Jugend des zeitlosen Gesellen, als er noch nicht bei der ARD unter Vertrag stand, sondern beim DFF, dem Deutschen Fernsehfunk in Berlin-Adlershof, der seit 1972 "Fernsehen der DDR" hieß. Jeden Tag Punkt 18.50 Uhr hatte der Star des Ostens seinen Auftritt: Um die Spannung richtig anzuheizen, erschien auf dem Bildschirm zunächst in Schulnorm-Schönschrift der Hinweis "Gleich kommt unser Sandmännchen", und dann kam er endlich. Eine zarte Kinderstimme sang ein Lied, in dem der Sandmann aufgefordert wird, sich nicht so zu beeilen: "Dem Abendgruß vom Fernsehfunk lauscht jeden Abend Alt und Jung, sei unser Gast derweil."
Eigentlich passte der Sandmann gar nicht recht zur Mangelwirtschaft der DDR, denn während die Ostdeutschen bis zu 14 Jahre auf einen Trabi warten mussten, verfügte der kleine Mann mit den putzigen Knopfaugen über einen gewaltigen Fuhrpark von geradezu großkapitalistischen Ausmaßen. Jeden Abend - und das war die eigentliche Sensation - tauchte er mit einem anderen Gefährt auf: Das konnte ein Motorroller sein oder ein Mähdrescher, ein Tragflügelboot oder ein Helikopter, ein Fesselballon oder ein Düsenjet und manchmal sogar ein Raumschiff.
Während der vom Sender Freies Berlin produzierte West-Sandmann Abend für Abend fast immer nur auf einer albernen Wolke einschwebte, standen seinem Ost-Kollegen die gesamten technologischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zur Verfügung. Souverän meisterte der kleine Mann die komplizierteste Technik, bevor er zum Beispiel mit einem U-Boot auftauchte, von artigen Kindern empfangen und hereingebeten wurde, um gemeinsam den "Abendgruß" zu sehen.
Dabei war der "Abendgruß" für die meisten Kinder eher eine Nebensache. Da gab es kurze Trickfilme oder Auftritte von "Frau Puppendoktor Pille mit der großen runden Brille", die altkluge Gesundheitsratschläge gab, Spielszenen mit den Handpuppen Pittiplatsch und Schnatterinchen, am amüsantesten waren da noch die kleinen Streitereien zwischen Herrn Fuchs und Frau Elster. Der "Abendgruß" war mal gut und mal schlecht, aber auf den Sandmann konnte man sich verlassen. Der machte anschließend stets sein Säckchen auf und streute den Kindern Sand in die Augen, damit sie auch gut schlafen würden. Dann bestieg er wieder sein U-Boot, seinen Helikopter oder seine Einschienenbahn und verschwand bis zum nächsten Abend.
Kaum zu glauben, dass dieser freundliche kleine Kerl ein Kind des Kalten Krieges war: Anfang November 1959 bekam DFF-Intendant Heinz Adameck die Programmzeitschrift "Hörzu" in die Hand, in der der SFB für Anfang Dezember die Gute-Nacht-Sendung "Sandmännchens Gruß für Kinder" ankündigte. Der DDR-Fernseh-Chef war alarmiert, denn er sah darin eine gefährliche Konkurrenz für die eigenen Kinder-Abendsendungen, in denen zum Beispiel der Märchenonkel "Meister Nadelöhr" auftrat. Wenn der Westen einen Sandmann bekommt, muss der Osten ihm mit einem eigenen Sandmann zuvorkommen, dachte Adameck und beauftragte den Bühnenbildner und Theatermaler Gerhard Behrendt mit der Produktion eines Puppenfilms, der innerhalb von drei Wochen sendefähig sein musste. Eigentlich eine unlösbare Aufgabe, in die sich Behrendt und sein Kollektiv dennoch begeistert stürzten. Das Grundkonzept bestand darin, die märchenhafte Figur des Sandmanns mit einer modernen Umwelt zu verbinden: Der Sandmann kommt, wird von den Kindern zum gemeinsamen Fernsehen eingeladen, streut ihnen anschließend Sand in die Augen und verschwindet wieder.
Innerhalb kürzester Zeit entwickelte Behrendt die 22 Zentimeter große Figur des Sandmännchens, dem er mit aufwendigster Tricktechnik Leben einhauchte. Für eine Filmsekunde mussten 24 einzelne Bilder aufgenommen werden, für die die Figur millimeterweise bewegt wurde. Macht 1440 Bilder pro Minute und 7200 für eine Fünf-Minuten-Sequenz - eine Heidenarbeit und ein teures Vergnügen.
Aber das Ergebnis ließ sich sehen, Behrendts Sandmännchen war von Anfang an ein Sympathieträger. Adameck und sein Programmchef, der spätere Dokumentarfilmer Walter Heynowski, waren begeistert, und Behrendt bekam ein Problem: Von nun an musste er für jeden Abend einen Sandmännchen-Film produzieren.
Für die Macher vom SFB dürfte es ein Schock gewesen sein: Am Abend des 22. November 1959 - und damit eine Woche vor dem geplanten Weststart - nahm das Ost-Sandmännchen seine Arbeit auf. Und es sah besser aus als sein etwas lumpiger SFB-Kollege, der am 1. Dezember an den Start ging, später aber von einer anderen Figur abgelöst wurde, die dann allabendlich per Wolke einschwebte.
Was Q für James Bond war, für das Sandmännchen war es Harald Serowski. Der Flugzeug-Konstrukteur, der seine Ausbildung bei den Heinkel-Werken absolviert hatte, entwarf für das Ost-Sandmännchen Senkrechtstarter, Hubschrauber, Segelgleiter, Jets, Raumschiffe, aber auch Kutschen, Hundeschlitten, Mopeds, Mähdrescher und Mondfahrzeuge - insgesamt mehr als 200 Vehikel, die nach Serowskis Zeichnungen maßstabgerecht zu den Puppen gebaut wurden.
Von Zeit zu Zeit nutzte das Sandmännchen seinen Fuhrpark gewissermaßen im Parteiauftrag und besuchte NVA-Soldaten oder Genossenschaftsbauern bei der Ernteschlacht oder Junge Pioniere. Aber insgesamt nur etwa 30 Folgen waren parteikonform geprägt, im Grunde seiner Herzens war der Sandmann eher unpolitisch. Gern besuchte er das Märchenland, wo er Aschenputtel aufmunterte oder die Prinzessin auf der Erbse über die Ursache ihres gestörten Nachtschlafs aufklärte. Selbst Westreisen durfte er antreten, wenn er zum Beispiel die Bremer Stadtmusikanten oder die Sieben Schwaben besuchte. Seine weiteste Reise führte ihn in den Weltraum: DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn nahm ihn 1978 mit an Bord der Sojus 31, mit der er als erster Deutscher ins All startete.
Das alles war so gut gemacht, dass auch westliche Fernsehsender Interesse zeigten. So gastierte der DDR-Sandmann jahrelang in dänischen, Schweizer und griechischen Fernsehprogrammen. Als dann aber auch der WDR 1966 in Berlin-Adlershof eine Lizenz kaufen wollte, lehnten die DDR-Fernsehbosse ab, obwohl sie die Devisen gern gehabt hätten. Wenigstens beim "Abendgruß" wollte der Osten seine gefühlte Überlegenheit in der Systemauseinandersetzung gewahrt wissen.
Nach der Wende ging es dem Sandmännchen zunächst wie vielen anderen ehemaligen DDR-Bürgern: Sein Job war akut bedroht. Zuschauerproteste bewahrten ihn glücklicherweise vor der "Abwicklung". Während das Westsandmännchen nach der Wende in den Vorruhestand geschickt wurde, ist der sympathische Spitzbartträger mit den Knopfaugen noch immer allabendlich im Einsatz.
Er hat Generalsekretäre und Bundeskanzler kommen und gehen sehen - und niemals ein Wort gesagt. Und selbst wenn der real existierende Kapitalismus in dieser oder einer der nächsten globalen Finanzkrisen untergehen würde, hätte das Sandmännchen gute Chancen, seinen Nachtarbeitsjob zu behalten. Auch im Postkapitalismus wird es Kinder geben, die es lieben, wenn man ihnen am Abend Sand in die Augen streut.