Linke-Chef Oskar Lafontaine besichtigte im Schauspielhaus seinen Bühnentod. Puren Zufall sollte man in Wahlkampf- und Krisenzeiten eher nicht unterstellen.
Hamburg. "Komödie ist Tragödie plus Zeit", das hat Woody Allen treffsicher erkannt. So gesehen hat das Schauspielhaus mit seiner "Marat"-Inszenierung nach mehr als einem halben Jahr Anlauf nun eine flaue Abschlusspointe erreicht. Aus einer gut gemeinten Absicht - dem Anprangern sozialer Missstände in Zeiten von Hartz IV, HRE- und HSH-Katastrophen - wurde eine Polit-Komödie in drei Akten mit Vorspiel.
Auf die Darstellerliste nachnominiert hatte sich nämlich der sehr gern volkstribunisierende Linke-Chef Oskar Lafontaine. Er kam gestern nach Hamburg, um sich in Volker Löschs auf Klassen-Krawall gebürstete Inszenierung anzusehen, wie der ebenfalls volkstribunisierende Marat-Darsteller einem Messer-Attentat zum Opfer fällt, das an das eigene, knapp überlebte vor 19 Jahren erinnert. Ein Plasberg-Moment, wie gemacht für Rampenlicht-Junkies mit Parteibuch, egal welcher Couleur: Inszenierte Politik trifft auf echte Wirklichkeit, Schockeffekt inklusive. Und, klar, mit Diskussion als Epilog.
Da sagte Lafontaine unter anderem: "Mich hat das Stück als solches interessiert, ich hatte überlegt, den Chor zu unserem Parteitag einzuladen. Das mit meiner Figur hat mich im Grunde nicht so aufgeregt. Teilweise habe ich das mit einer gewissen Ironie gesehen."
Schon das "Marat"-Vorspiel, ein Lokal-Politikum, war prominent besetzt gewesen: Karin von Welck und ihr frisch verlängerter Intendant Friedrich Schirmer waren sich über einen Vorab-Zensurversuch der Kultursenatorin in die Haare geraten. Es ging um das Verlesen der Namen sehr reicher Hamburger. Er wollte das, sie nicht. Beide hatten sich dann aber nach dem Erwischtwerden sehr schnell darauf geeinigt, dass sie nie, nie, nie uneinig waren. Realpolitik.
Erster Akt: die Premiere. Kritiker kritisierten, der eine oder andere hanseatische Größtverdiener, der als anprangerungswürdig verlesen wurde, regte sich auf. Viele andere blieben gelassen, und das Skandälchen mit Ansage kam und ging. Es gab Wichtigeres. Es war ja "nur" Theater.
Der zweite Akt: "Marat" wurde gespielt. Viel mehr war nicht. Viel mehr wäre wohl auch nicht gewesen, hätte dieses Land nicht zeitgleich eine dramatische Wirtschaftskrise und einen Bundestagswahlkampf zu durchleiden. Ideale Zeiten für einfache Thesen. Da ist ein Stück wie "Marat" eine Steilvorlage für einen wie Lafontaine, dessen Besuch gestern den dritten Akt einläutete. Würde "Big Brother" noch Quoten-Gäste anlocken und wäre Guido Westerwelle nicht schon da gewesen, wer weiß, was man sonst noch an Laientheater mit Polit-Aroma miterleben könnte. Egal. Feste feiert man, wie sie fallen; Chancen ergreift man als Politiker, wo immer sie sich bieten.
Wenn ein Stück schon die grob rhetorische Frage stellt: "Was ist aus unserer Revolution geworden?", kann sich zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall und im vierten Merkel-Jahr ein Charakterdarsteller wie Lafontaine beim besten Willen nicht stumm stellen. Ein provokant gedachtes Stück, das von manchen schon als "Wiederbelebung des Agitprop" umschrieben wurde, und ein Politiker, der wie nur wenige sonst auf der Klaviatur der Empörung zu spielen versteht - was für eine Wahlkampf-Gelegenheit. Das Theater kann sich als moralische Anstalt inszenieren, der Politiker als moralisierende Gestalt. Lafontaines Meinung: " Wir haben viel zu wenig politisches Theater." Wenn das mal nicht schon Dialektik ist.
In diesem Zusammenhang ist dann aber auch interessant, dass Lafontaines linkes Herz bei der Vorstellung, "Marat" als Gastspiel im Saarland zu erleben, nicht höher schlug. Dort wären gut betuchte Saarländer an den Verbal-Pranger gestellt worden. "Bei uns kommt man viel zu schnell in der Mittelschicht an", zitierte die "taz" den Ex-Landesvater, was wohl heißen soll: Das Klassenziel wäre verfehlt. Keine schöne Vorstellung.