In “Der kleine Bruder“ lernt Frank - Anti-Held der Romane “Herr Lehmann“ und “Neue Vahr Süd“ - Berlin kennen.

Berlin. Als Frank Lehmann 30 wurde, wollte er nur noch "Herr Lehmann" genannt werden. Sein lässiges Berliner Leben, in dem hauptsächlich Bier getrunken, sinnfrei gequatscht und auf wer-weiß-was gewartet wurde, änderte sich plötzlich. Die Mauer ging auf.

Mit der Beschreibung dieses Tages endete Sven Regeners Erfolgsroman "Herr Lehmann", der sich mehr als eine Million Mal verkauft hat, der in 26 Sprachen übersetzt und auch verfilmt wurde. 2004 schrieb Regener mit "Neue Vahr Süd" die Vorgeschichte zu Frank Lehmanns Berliner Leben auf, in dem der junge Frank in eine Bremer WG zieht und zum Bund muss. Nun erscheint der dritte, zeitlich mittlere - und wie Autor Regener sagt - letzte Band der Lehmann-Trilogie. Er handelt von dem Tag, der auf Franks Rausschmiss bei der Bundeswehr folgt. Frank fährt mit dem Auto nach Berlin, zu seinem Bruder. Doch der ist nicht da. Stattdessen wartet jede Menge Leerlauf auf ihn, der nur von plötzlichem Chaos durchbrochen wird. "Der kleine Bruder" beschreibt die ersten zwei Tage Frank Lehmanns in Berlin, in denen er ganz unerwartet alles findet, was er braucht: neue Freunde, eine Wohnung, einen Job. Und ganz am Schluss auch seinen Bruder. Wir sprachen mit Regener, der im Hauptberuf immer noch Musiker ist - 1985 gründete er die Band "Element Of Crime", mit der er weiterhin auf Tour geht - über seinen neuen Roman.


Hamburger Abendblatt:

Frank Lehmann kommt nach Berlin, landet in einer schäbigen WG und muss schon am ersten Abend endlos durch Kneipen ziehen. Sein Leben wirkt anstrengend und chaotisch. Ist das Zeitkolorit aus den 80er-Jahren, als Sie aus Bremen nach Berlin kamen, oder lebt man heute noch genauso?

Sven Regener:

Ich blicke heute gar nicht mehr durch. Wie ist das jetzt, wenn man aus der Provinz nach Berlin-Mitte kommt und in der Kunstszene landet? Ich weiß es nicht. Und auch für mich war es ja nicht so wie für Frank. Für jeden ist das doch anders. Aber sicher ist, dass es bei all dem Fürchterlichen, das ihm passiert, aufregend und spannend ist, gleich ins Nachtleben von Berlin gestoßen zu werden und Künstler kennenzulernen.



Abendblatt:

Künstler ist aber geschmeichelt. Da werden Papierschiffchen gefaltet, Eisenteile zusammengelötet und man wohnt im dritten Hinterhof.

Regener:

Aber Frank bekommt 'ne ganze Menge gebacken. In nur 48 Stunden baut er sich ein komplett neues Leben auf. Hat eine Wohnung, Arbeit in einer Kneipe, einen Freund, Geld. Also, das ist eine echte Erfolgsstory.



Abendblatt:

Sie meinen, in 'Herr Lehmann' und 'Neue Vahr Süd' geht ein Leben in die Brüche und hier läuft alles rund?

Regener:

Ja, hier ist es endlich mal positiv, konstruktiv. Also, für mich wär so ein Leben auch ein Albtraum, aber Frank ist ja erst 21. Da ist es ja noch ziemlich wurscht, ob man auf einer Matratze schläft. Hauptsache, man erlebt was Neues. Frank ist am Morgen erst aus dem Sanitätsbereich der Bundeswehr entlassen, fährt dann mit Wolli in seinem klapprigen Auto auf der Transitstrecke nach Berlin und zieht dort gleich durch die Kneipen. Das ist doch aufregend, diese neue Welt, durch die er stolpert. Klar geht der überall mit. Soll der wie ein alter Mann sagen, 'nee, ich bin müde und will ins Bett'?



Abendblatt:

Berlin war schon vor der Wende der Ort, an dem man was erleben konnte.

Regener:

Absolut. Ich bin 1982 wegen einer Frau nach Berlin gekommen. Mit meiner Trompete. Nach zwei Wochen ging alles, da konnte ich in einer Band mitspielen, hatte alles. Unglaublich. Man ließ die ganze westdeutsche Vergangenheit komplett hinter sich. Ich wollte immer in eine große Stadt. Zuerst war ich von Bremen nach Hamburg gegangen. Aber Hamburg war mir dann nicht groß genug. Da war es noch zu sehr wie in Bremen. Man wurde gefragt, was man machen will, wo man herkommt. In Berlin stellte einem niemand Fragen. Man konnte machen, was man will. Es war alles egal, alles war möglich. Wie im Rausch. Ich hab nichts genau so erlebt wie Frank, aber alles, was er erlebt, ist komplett realistisch, nicht ausgedacht. Das einzig Unrealistische ist vielleicht, dass er das alles ohne Drogen durchhält. Damals waren Drogen 'ne große Sache. Die Leute haben alles Mögliche gekauft, vor allem Aufputschmittel, und sind einfach nicht mehr ins Bett gegangen. Nachts. Alles war immer dunkel. Man sah nie mehr das Tageslicht. Dafür ist Frank aber nicht der Typ. In die Szene kommt er nur durch seinen Bruder. Ich bin sicher, diese Szene gibt es immer noch.



Abendblatt:

Was Frank allein an Bier trinken und an furchtbarem Gerede ertragen muss, ist lustig und kaum auszuhalten. Aber er steht das stoisch durch.

Regener:

Einiges befeuert ihn ordentlich. Kaum ist bei einem Konzert einer Punkgruppe, schon hat er einen Job am Tresen. Er ist eben kein Tunichtgut. Das ist ein hart arbeitender Mensch. Und ein Genie im Tresenbereich. Der macht die Abrechnungen im Kopf. Gut, der Bereich ist nicht sehr glamourös, aber Frank ist ein Megatalent an der Theke.



Abendblatt:

Warum haben Sie jetzt wieder eine Vorgeschichte zu 'Herr Lehmann' geschrieben und nicht etwa erzählt, wie es nach dem Mauerfall mit ihm weitergeht?

Regener:

Ich schreib doch keine Fernsehserie. Mit meinem Personal würde das 'ne Sitcom werden mit labernden Taxifahrern und durchgeknallten Kneipenbesuchern. Ich hab eher eine Detektivgeschichte geschrieben. Frank sucht seinen Bruder. Im Auftrag der Mutter. Er denkt, wenn er den gefunden hat, dann weiß er, was er machen soll. Für mich gab es drei Eckpunkte, in 'Neue Vahr Süd' und 'Herr Lehmann' liegt am Ende alles in Trümmern. Ich wollte zeigen, dass er sich auch ein Leben aufbauen kann. Nach 'Neue Vahr Süd' ist der Bruder für Frank der einzige Lichtblick am Horizont. Und ausgerechnet der ist nie da. Mir war wichtig zu zeigen, dass sich Frank trotzdem ganz alleine aus seiner Situation rausholen kann. Zwischen ,Kleiner Bruder' und 'Herr Lehmann' liegen neun glückliche Jahre, in denen er zu sich selbst findet. Er will nicht zu dieser Subkulturszene dazugehören, er will auch nicht bei denen mitreden. Er will ihnen Bierdosen verkaufen. Damit ist er glücklich.



Abendblatt:

Wussten Sie von Anbeginn, dass sich der Roman nur über zwei Tage erstrecken wird?

Regener:

Ja, sonst hätte man ja wirklich die Polizei rufen müssen, wenn der Bruder länger verschwunden geblieben wäre. Aber eins wusste ich auch. Ich wollte ein schwarzes Cover, eine nächtliche Szenerie. Und für die Grundstimmung wollte ich viel Paranoia. Immer war die Mauer da, obwohl man nie drüber gesprochen hat. Die 80er-Jahre, da herrschte doch überall Paranoia, man hatte dünne Nerven, war schreckhaft. Vielleicht auch nur, weil man so viel getrunken hat und immer einen Kater hatte.



Zeitgleich erscheint das Hörbuch bei ROOF Music / tacheles!