Stadtteilkultur: Zu Besuch in Ottensens “Motte“: Hühner, Bienen und Alfons.

Hamburg. Daß Emmanuel Peterfalvi sich neben den Bienenstöcken fotografieren läßt, beweist Mut. Der Franzose, der sonst als liebenswert trotteliger Reporter Alfons in der NDR-Satireshow "Extra 3" mit Puschelmikro, Akzent und 70er-Jahre-Trainingsjacke antritt, hat eine Bienenallergie. "Aber was tut man nicht alles für die ,Motte'", murmelt er mit schiefem Lächeln und äugt mißtrauisch zu den summenden Kästen. Die stehen in luftiger Höhe: über den Dächern von Ottensen, auf dem Giebel des vielleicht eigenwilligsten Hamburger Stadtteilzentrums. Die "Motte" nämlich hat nicht nur eigene Werkstätten, diverse Projekte rund um Film, Theater, Siebdruck oder Fotografie und richtet rund 90 Veranstaltungen jährlich aus, sondern beherbergt auch eine engagierte Kleintiergruppe. Fünf Bienenvölker leben (friedlich) auf dem Dach, in Hinterhof picken (erwartungsgemäß ebenfalls friedlich) 20 Hühner, 14 Küken und ein Hahn. Richard.

Ottensen ist ein Dorf, sagen die Leute, die hier leben, und an kaum einem Ort wird das deutlicher als in der "Motte". Man kennt sich, man grüßt sich, und wenn man in die S-Bahn Richtung Alster steigt, fährt man "in die Stadt". "Mottenburg" hieß das einstige Arbeiterviertel früher einmal, eine Anspielung auf die damals verbreitete Tuberkulose, die die Lunge zerfraß wie die Falter den Stoff. Daß Ottensens Stadtteilkulturzentrum sich in Anlehnung an den selbstironischen Spitznamen heute "Motte" nennt, ist nicht nur eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten, sondern auch ein Sinnbild für die Neuerungen, die das Viertel in den letzten Jahrzehnten durchstritten und erreicht hat. Die Löcher, für die die "Motte" heute steht, sind Lücken im System, die die Macher durchaus positiv verstanden wissen wollen: als Freiräume, Nischen und Schlupflöcher der Kreativität.

"Es ist in Hamburg sauschwer, Orte zu finden, an denen man work in progress zeigen kann", sagt Emmanuel Peterfalvi. "In der ,Motte' geht das." Als Peterfalvi vor rund zwölf Jahren aus Frankreich an die Elbe zog, war die "Motte" eine seiner ersten Anlaufstationen. "Ich konnte ja überhaupt kein Deutsch und habe deshalb günstige Deutsch-für-Ausländer-Angebote gesucht." Die hat sein damaliger Haussender Premiere dann zwar doch an anderer Stelle für ihn gefunden, aber die "Motte" blieb dem naiv-respektlosen Moderator ("Wären Sie lieber schwul oder Politiker?", "Wer ist Ihrer Meinung nach fauler - ein Ausländer oder ein Arbeitsloser?") im Gedächtnis. "Meine Idee war schon lange: Bühne, Bühne, Bühne. Das wurde aber immer schwieriger, weil ich irgendwann einen gewissen Bekanntheitsgrad durch meine Fernsehgeschichten hatte. Der Druck, etwas Perfektes abliefern zu müssen, wurde immer größer. Ich wollte mich aber eigentlich erst mal ausprobieren." Das konnte er - vor vier Jahren bei der Gala zum 25jährigen "Motte"-Bestehen.

"In der ,Motte' traf ich auf fertige Künstler und auf Amateure", erzählt Peterfalvi. "Hier mischt sich alles, das ergibt eine tolle Atmosphäre." Clemens Hoffmann-Kahre, Kultur- und Bildungsrefernt des Zentrums, und Veranstaltungsmanager Stefan Küper bestätigen den Eindruck: "Diese Vielfalt macht es Außenstehenden manchmal schwer, uns einzugrenzen." Der Etat von 800 000 Euro im Jahr wird von drei verschiedenen öffentlichen Zuwendungsgebern unterstützt. Den größten Teil gibt die Kulturbehörde aus ihrem Topf für Stadtteilkultur (329 000 Euro), dazu kommen Mittel der Behörde für Soziales und Familie (163 000 Euro) und Gelder des Jugendhilfeplans (186 000 Euro). Der Rest setzt sich aus Spenden, Sponsoren, Vermietungen und Eintrittsgeldern zusammen. Bezahlt werden davon auch die 15 Festangestellten, die von Praktikanten, einem Zivi und rund 100 Ehrenamtlichen unterstützt werden.

"Uns ist es wichtig, die Leute an unser Haus zu binden", erzählt Küper. "Unsere Atmosphäre ist familiär. Die ,Motte' ist eine Art Kokon für viele Künstler." Das gilt sowohl für die Jugendlichen, die in der Bandreihe "Spot Check" ihren ersten Auftritt haben, als auch für Profis wie den Kabarettisten Michael Ehnert oder den mehrfach ausgezeichneten Regisseur Fatih Akin, der seinen allerersten Film als Praktikant in der "Motte" drehte. "Die Organisation, die Technik und die Techniker hier sind tiptop", lobt Peterfalvi, "und die Stimmung ist besonders. Das spürt man sogar in den Wänden." - "Und in den Säulen", ergänzt Hoffmann-Kahre und meint die unverrückbaren Sichtblockaden im großen Veranstaltungsraum. "Die Säulen - der natürliche Feind des Künstlers", grinst Küper. "Und die beste Inspirationsquelle", ergänzt Alfons diplomatisch.

Die "Motte" ist ein Haus mit Geschichte. Früher einmal war das Gebäude eine Schokoladenfabrik, und in den Seniorengruppen gibt es Teilnehmer, die sich noch gut erinnern, wie sie hier als Kind Keksbruch holten. Keksbruch bekommt man heute zwar nicht mehr - aber Honig, Eier, Erdbeeren und Johannisbeeren vom Dachgarten des Gebäudes. Wobei das ungewöhnliche Anbaugebiet durchaus seine Tücken hat: "Im Herbst müssen wir aufpassen, daß uns die Kürbisse nicht vom Dach fallen." Es stimmt schon: Ottensen ist ein Dorf - bloß eben auf eine sehr eigenwillige Weise.