Regisseur: Psychische Abgründe faszinieren ihn: Ein Gespräch mit David Cronenberg über seinen neuen Film “Spider“

Als Regisseur intellektueller und tief verstörender Horrorfilme wie "Shivers" (dt. "Parasiten-Mörder") und "Dead Ringers" (dt. "Die Unzertrennlichen") hat es der Kanadier David Cronenberg (61) zu Weltruhm gebracht. Seine Fähigkeit, psychische Abgründe in ebenso faszinierende wie beklemmende Bilderwelten umzusetzen, besticht auch in "Spider", seinem neuesten Werk, das von heute an im Grindel, Passage, UCI Mundsburg und UCI Othmarschen Park läuft.

ABENDBLATT: Ein Schizophrener versucht die Bruchstücke seiner alptraumhaften Kindheit zusammenzufügen. Was hat Sie an dem Thema des Buches von Patrick McGrath gereizt?

DAVID CRONENBERG: Als ich die Buchvorlage zum ersten Mal las, konnte ich mir gut vorstellen, selber in den Straßen umherzuirren und Worte zu murmeln, die sonst niemand versteht. Vielleicht steckt darin die typische Figur des unverstandenen Künstlers. Für mich war das Thema universaler. Denn Identität ist eine zerbrechliche Angelegenheit. Um eine gesunde Existenz zu wahren, müssen wir daran glauben, dass die Dinge solide und stabil sind. Aber jeden Abend ist in den Nachrichten zu sehen, wie ein politisches, mentales oder emotionales Trauma unser Leben völlig aus der Bahn werfen kann. Ich fühle mich mit Spider eng verbunden und sehe ihn nicht als Schizophrenen, sondern als die Verkörperung einer bestimmten existenziellen Realität. Sie muss uns nicht unbedingt betreffen, aber wir sollten ihr ins Gesicht sehen.

ABENDBLATT: Interessiert Sie Spiders nackte Existenz ohne soziales Umfeld?

CRONENBERG: Ich bin nicht schizophren und habe keine biografischen Parallelen zu der Figur von Spider. Aber dieser Mann reduziert sich auf die bloßen Grundlagen der Existenz: Er hat ein paar Kleider am Körper und einen Koffer - das ist alles. Er hat keine Freunde, keine Wohnung, keinen Beruf, all die Dinge, die zusammengenommen das ergeben, was wir ein Leben nennen.

ABENDBLATT: Spider ist eine ungewöhnliche Rolle für Ralph Fiennes, der sonst eher heldenhaft auftrat.

CRONENBERG: Ich bin nicht sicher, ob man seinen Auftritt als KZ-Kommandant in "Schindlers Liste" heldenhaft nennen kann. (lacht) Ralph ist eben ein echter Schauspieler, der gern Risiken eingeht. Er interessierte sich schon für die Rolle, bevor ich an dem Projekt beteiligt war. Viele andere wären vor dieser Rolle zurückgeschreckt. Ralph Fiennes musste für diese extreme Rolle auf Tricks und Begabungen, vor allem auf seine intensive Stimme, verzichten. Sein ganzer Ausdruck lag in der Körpersprache.

ABENDBLATT: Mit welchen Stilmitteln wollten Sie das mentale Universum Spiders in Bilder übersetzen?

CRONENBERG: "Spider" ist in gewisser Hinsicht ein expressionistischer Film, denn das Innenleben der Hauptperson drückt sich durch äußerliche Details aus wie das Muster der Tapete in seinem Zimmer oder die Nikotinflecken auf seinen Fingern. Die Figur von Spider könnte aus der Welt Samuel Becketts stammen: Der Mantel auf seinen Schultern und der Inhalt seines Koffers, das ist sein Leben.

ABENDBLATT: Wie interpretieren Sie die Bilder von Spiders innerer Welt, eine Art Spinnennetz aus langen Fäden, das unter der Decke seines Zimmers hängt?

CRONENBERG: Wir sind uns im Laufe der Evolution zufällig - ich folge dabei keinerlei religiösen Erklärungsversuchen - des Geheimnisses unserer Existenz bewusst geworden. Wir sehen uns selber beim Leben zu. Eine Spinne spinnt mit ihrem eigenen Körper ein Netz und setzt sich dann in die Mitte. Wir Menschen tun auch nichts anderes. So wie beim Anfertigen eines Spinnennetzes schaffen wir aus uns heraus die Technologie der eigenen Existenz. Diese Dimension des Spinnennetzes faszinierte mich viel mehr als die Idee von der Falle.

ABENDBLATT: Sie halten Spider für eine Figur aus dem Universum Becketts. Warum spielen in Ihren Filmen immer wieder Menschen eine Rolle, die sich der Außenwelt entfremden?

CRONENBERG: Die Entfremdung ist ein zentrales Thema des 20. Jahrhunderts. Spider könnte nicht nur aus der Welt Becketts sein, sondern hätte als Figur auch eine Rolle bei Kafka oder Dostojewski gespielt. Meine Lebensphilosophie würde ich als existenzialistisch bezeichnen. Denn ich glaube, dass jeder von uns entfremdet ist, weil er sich in seinem eigenen Leben isoliert. Wir brauchen natürlich die Illusion, mit anderen Menschen fusionieren zu können. Aber da man weder seine Geburt noch seinen Tod mit anderen Menschen teilen kann, bleibt man auch sein Leben lang ganz allein. Ich will in meinen Filmen die Phänomene der Entfremdung beobachten, aber mich dadurch nicht völlig desillusionieren oder deprimieren lassen. Für mich ist Filmemachen eine Art philosophische Reise. Ich will herausfinden, was Menschsein bedeutet und wer ich bin.

ABENDBLATT: Spiders Kindheit steht unter dem Zeichen des Ödipus-Komplexes. Wie sehr wird das Leben Ihrer Figuren und möglicherweise Ihr eigenes von klassischen psychologischen Strukturen bestimmt?

CRONENBERG: Die Struktur des Ödipus-Komplexes ist bekannt. Jedes Kind hat eine seltsame Beziehung zu der Sexualität seiner Eltern. Vielen wollen glauben, ihre Eltern hätten nur einmal miteinander geschlafen, nämlich als sie selber gezeugt wurden. Selbst wenn die Kinder selber Lust auf Sex bekommen, wollen sie den Gedanken an sexuelle Eltern am liebsten ganz verdrängen. Als Junge ist Spider sexuell fasziniert von seiner Mutter und daher eifersüchtig auf seinen Vater. Im klassischen Ödipus-Schema müsste er seinen Vater töten, um seine Mutter endlich zu besitzen, aber dann wird er sich schuldig fühlen. Ich will diese Dinge nicht so schematisch sehen, denn für mich war Freud in erster Linie eine Art Dichter und brillanter Künstler - ob er wissenschaftlich Recht hatte oder nicht, spielt daher keine große Rolle. In diesem Sinne fungiert Freud neben Kafka, Beckett und Dostojewski als Pate für diesen Film.

Interview: Marcus Rothe