Gieriges Genie: Heute würde der spanische Maler 100 Jahre alt. Fast alle kennen seine Bilder, nur wenige jedoch sein Wesen. Auch die Gelehrten streiten noch . . .

Hamburg. Mitunter schreibt sogar ein Käse Kunstgeschichte. Genau genommen war es ein Camembert, der Salvador Dalí zu einem seiner berühmtesten Bilder inspirierte. Weich und fließend gerieten ihm die Uhren in Öl auf Leinwand zum Bild "Beständigkeit der Erinnerung" (1931). Kurz zuvor hatte "das Genie" Camembert zu Abend gegessen.

Aufgehängte weiche Uhr am kahlen Ast eines Olivenbaums - was ist Erinnerung anderes als verlaufende Zeit? Umgeben von kühlem, leerem Raum, der Andeutung von Küste vor Dalís Fischerhaus bei Port Lligat. Ein magisches Bild aus dem Reich des Unbewussten ist ihm gelungen, für Jahrzehnte war es ein Verkaufsschlager der Posterkultur.

Jetzt gilt die Erinnerung Dalí selbst anlässlich seines 100. Geburtstags, dem Exzentriker und begnadeten Maler. "Ich bin ein Magier der wahnhaften Erkundung und ein Weiser, dessen Geheimnisse zu den Schätzen der Menschheit gehören", orakelte der Katalane und amüsierte die Welt mit dem Bild des selbst ernannten "künstlerischen Genies". Er gefiel sich darin, die Augen aufzureißen und den dünnen Schnurrbart hochzuzwirbeln - in Form gebracht mit Ozelotkot.

Ein Verrückter, ein Genie, ein Scharlatan? Die Meinungen über ihn und die Bedeutung seines Werks gehen weit auseinander.

Als das Bild "Die Beständigkeit der Erinnerung" entstand, befand sich der junge Dalí in einer seiner großartigsten Schaffensphasen. Dank der Vermittlung Joan Miros war der junge Katalane zur Gruppe der französischen Surrealisten um Andre Breton gestoßen. Sie haben die Schriften Sigmund Freuds mit großer Faszination studiert und programmatische Manifeste über den Surrealismus verfasst. Die Künstler suchten nach Wegen, Bilder aus dem Unbewussten an die Oberfläche zu bringen, wollten das Innere der menschlichen Natur enthüllen. Allen voran Dalí.

Für keinen Geringeren als den Dichter Frederico Garcia Lorca hatte Dalí ein Bühnenbild entworfen, für den Filmemacher Luis Buñuel zwei Drehbücher geschrieben (u. a. "Der andalusische Hund"). Im Umfeld der surrealistischen Avantgarde entwickelte Dalí seine "paranoisch-kritische Methode". Wahnsinn mit Methode.

Vor allem aber ist der Sohn aus gutem Hause - sein Vater war ein angesehener Notar in Figueras - 1929 in Cadaques seiner Schicksalsgöttin Gala begegnet. Die Russin war damals noch mit dem surrealistischen Dichter Paul Eluard verheiratet. Dalí und Gala wurden ein Liebespaar, sie kauften sich ein Fischerhaus in Port Lligat, das für Dalí Heimat wurde.

Es war Gala, die Dalí zu dem gemacht hat, was er der Welt vorgaukelte: den zynischen Clown. 1927 war der Katalane noch ein schüchterner junger Mann, der durch gute Manieren bestach, notierte die Schriftstellerin Claire Goll. Dabei war er ein zorniges, rebellisches Kind gewesen, musste aus disziplinarischen Gründen die Madrider Kunstakademie verlassen, wie er in seinen Memoiren "Das geheime Leben Salvador Dalís" (1942) bekannte.

Der damals 25-jährige Salvador sei genau der Mann gewesen, den Gala suchte, schreibt Claire Goll; Gala habe seine Persönlichkeit systematisch aufgebaut, habe ihn genötigt, sich zu bestätigen und selbst zu übertreffen. "Sie hat ihm die Welt vereinfacht, indem sie alle Entscheidungsmöglichkeiten auf eine Formel reduzierte: treten oder getreten werden." Golls Urteil über Dalí: Er war "großspurig, aber ohne Stolz, bereit, um jeden Preis die Aufmerksamkeit zu erregen und Erfolg zu haben, und sei er der Platteste und Vulgärste".

Dass Dalí auch als schamloser Geschäftemacher in die Kunstgeschichte einging, ist wohl ebenso das Verdienst Galas. Ohne sie, gestand Dalí, würde er in einem Loch voller Läuse leben, halb verrückt und halb erleuchtet. "Meine besten Tage sind solche, an denen ich zwischen Erwachen und Frühstück 10 000 Dollar für eine Platte verdiene", bekannte er, und dass die "Bankiers die Hohepriester der Dalíschen Religion" seien. Aus gutem Grund hat Andre Breton das Anagramm "Avida Dollars" (Dollargier) aus Dalís Namen gemacht.

Dalís Sympathie für Hitler und seine lange, Frucht bringende Freundschaft mit Diktator Franco werfen weitere Schatten. Dem Generalissimo hatte es Dalí zu verdanken, dass das Terrain rund um sein stetig wachsendes Anwesen in Port Lligat unter Naturschutz gestellt wurde.

Künstlerisch gelten die 20er- und 30er-Jahre als seine wichtigste Zeit. Dalí durchlebte nach dem Krieg Phasen, in denen er sich intensiv mit den alten Meistern beschäftigte, mit religiösen Themen, mit dreidimensionaler und psychedelischer Malerei. Dalí illustrierte Bücher, schrieb kunsttheoretische Texte, eine Biografie, Romane, arbeitete für Oper und Theater, entwarf Möbel, Mode, Schmuck - machte eigentlich alles, was Geld bringt, auch Werbung. Er selbst wurde zum Markenzeichen durch seine exzentrischen Auftritte.

Am Ende seines Lebens wurde die Welt von gefälschten Werken überschwemmt. Die Parkinsonsche Krankheit führte dazu, dass Dalí Ende der 70er-Jahre kaum noch malen konnte. Damit aber die Geldquelle nicht versiegte, soll er 1973, so die spanische Zeitung "El Pais", 40 000 Blankobögen Lithographiepapier signiert haben, auf denen gefälschte "Dalís" abgezogen wurden. Der spanische Maler Pujol Baladas erklärte 1983, er habe zwischen 1975 und 1981 etwa 30 Ölgemälde sowie 400 Aquarelle, Gouachen und Zeichnungen unter dem Namen Dalís angefertigt. Ohne Wissen des Meisters?

Zumindest dessen Frau Gala und die drei Sekretäre Captain Peter J. Moore, Enrique Sabater und Jean-Claude Verite haben von den Machenschaften gewusst und profitiert. Nach Schätzungen sollen 90 Prozent der auf dem Markt befindlichen Grafiken Dalís nicht echt sein.

Gala starb 1982 im Alter von 88 Jahren. Nachdem sich Dalí 1984 bei einem Feuer in seinem Schlafzimmer schwer verletzt hatte, zog er nach "Torre Galatea" in Figueras, dem heutigen Sitz der Gala-Dalí-Stiftung. Im Theater-Museum fand "das Genie" nach seinem Tod 1989 die letzte Ruhe. Nicht konserviert, wie er es einmal vorhatte - "Ich werde ohne Ungeduld in flüssigem Helium warten" -, dafür aber in unserer beständigen Erinnerung.