Roland Stuhlmann-Laeisz (97) arbeitete ab 1931 für Siemens in China. Dort begegnete er dem Geschäftsmann, dem 250 000 Chinesen ihr Leben verdanken. Ein Gespräch über Heldentaten und eine schwierige Vergangenheit. Bilder zum Film “John Rabe“.

Einmal in der Woche sind sie sich begegnet. John Rabe hatte Aufträge für Siemens in seiner Aktentasche. Meist im hellen Anzug und mit Hut betrat er die Zentrale des Konzerns in Shanghai, sein Weg führte ihn in die Buchhaltung. Dort saß ein junger Buchhalter, er rechnete noch auf Papier, schrieb die Aus- und Einnahmen noch handschriftlich in die Bücher. Sie begrüßten sich mit Handschlag.

Der junge Buchhalter war 19 Jahre alt, als sie sich im Jahr 1931 zum ersten Mal begegneten, Rabe fast 50. Beide kamen aus Hamburg, das war eine Gemeinsamkeit. Heute, 78 Jahre später, lebt der Buchhalter von damals in einem Seniorenheim in Hamburgs feinem Stadtteil Othmarschen.

Er heißt Roland Stuhlmann-Laeisz, ist 97 Jahre alt und ein Zeitzeuge, einer der den Retter von 250 000 Chinesen noch persönlich gekannt hat. Morgen kommt der Film über das Leben von John Rabe in die Kinos. Darin wird die Geschichte von dem "guten Deutschen von Nanking" erzählt, der während des japanischen Angriffs auf China 1937/38 zum "Helden" wurde. In den deutschen Feuilletons wird pünktlich zum Filmstart darüber diskutiert, ob so einer wie John Rabe, der auch NSDAP-Mitglied war, überhaupt positiv dargestellt werden dürfe. Die Debatte darüber hat auch Roland Stuhlmann-Laeisz verfolgt.

Trailer: John Rabe

Hier geht’s zum Videoportal

Es ist Nachmittag, und die Sonne scheint durch die Fenster seines Zimmers. Er sitzt in einem Sessel. Vor ihm auf dem Tisch liegt das Buch von Erwin Wickert über John Rabe, auch das hat er gelesen. "Es stimmt alles, was da drinsteht", sagt er. Der Film hat sich an dem 1997 veröffentlichten Buch des Vaters von Ulrich Wickert ("Tagesthemen") orientiert. Denn erst durch das Publizieren der lange verschollenen Tagebücher von John Rabe durch Erwin Wickert wurde die Geschichte öffentlich. Auf der einen Seite steht der "gute Mensch", der Held, auf der anderen das NSDAP-Mitglied. "Das soll keine Entschuldigung sein, aber gerade viele der Deutschen im Ausland sind der Partei damals beigetreten." Stuhlmann-Laeisz sagt das ganz ruhig, seine Worte sind gut gewählt. Er selbst war damals Mitglied. "Ich weiß von Rabe, dass er der Überzeugung war, das sei eine gute Sache, und dass er ein Anhänger von Adolf Hitler war. Aber in den 30er-Jahren hat die internationale Presse auch wenig Negatives über den Nazi-Staat berichtet." Zum Beispiel sei auch der Röhm-Putsch im Ausland "bagatellisiert" worden. "Dass das schon ein Verbrechen war, das hat man damals nicht geahnt."

Roland Stuhlmann-Laeisz ist einer der letzten Zeitzeugen von John Rabe, kaum einer kann heute noch darüber berichten, wie die Deutschen vor dem Zweiten Weltkrieg in China gelebt und was sie von Deutschland mitbekommen haben. Er hat von 1931 bis zum April 1937 in Shanghai bei Siemens gearbeitet. "Die meisten sind aus Opportunität der NSDAP beigetreten. So schlimm, wie es klingt. Es gehörte damals zum guten Ton."

Während Roland Stuhlmann-Laeisz damals im Haus seiner Tante in Shanghai gelebt hat, vertrat John Rabe das Unternehmen Siemens in Nanking, der damaligen Hauptstadt von China. Er wohnte mit seiner Familie in einer Villa. "Rabes Aufgabe war es, die Aufträge einzuholen und zu vermitteln." Denn in Nanking gab es kein technisches Büro von Siemens, sondern nur einen eher administrativen Bereich. "Rabe war dort Chef von etwa 30 Chinesen."

Zusammen mit einem sogenannten Komprador, einem einflussreichen chinesischen Angestellten, verhandelte er vor Ort mit chinesischen Unternehmen und sprach bei hohen Regierungsbeamten vor. "Sie holten damals zum Beispiel einen großen Auftrag für ein neues Telefonnetz in Wuhan." Es wären schon die großen Geschäfte gewesen, die Rabe abgeschlossen hätte. "Und oft lief das nicht ohne Schmiergelder ab. Aber das gehörte damals dazu. Das machte wirklich jeder so."

Roland Stuhlmann-Laeisz arbeitete in diesen Jahren in der Buchhaltung und kannte die Bilanzen. Man habe diese Ausgaben damals NA genannt, "Nützliche Abgaben". "Ich wusste genau, für was und wen das Geld ausgegeben wurde." Und wenn Rabe in die Buchhaltung gekommen sei, habe er auch immer Geld mitgenommen.

Stuhlmann-Laeisz erinnert sich daran. "Er war immer sehr höflich. Wirklich sehr bescheiden. Und trotz seiner Position überhaupt kein Angeber." So jemandem sei man mit Respekt begegnet. Rabe war ja auch 30 Jahre älter als er damals. "Wir hatten kein vertrautes Verhältnis. Wirklich nicht. Aber er war, obwohl ich so viel jünger war, immer freundlich." Man habe ihm auch damals schon angemerkt, dass ihm seine chinesischen Mitarbeiter am Herzen gelegen hätten, außerdem sei er auch ein großer Familienmensch gewesen. "Nicht wie manch anderer Deutscher, der sich wie etwas Besseres aufgeführt hat."

Roland Stuhlmann-Laeisz holt Fotos aus einer silbernen Dose hervor. Diese Dose wurde ihm im April 1937 von seiner Hockey-Mannschaft zum Abschied geschenkt, weil er nach Berlin versetzt wurde. Auf den Bildern sieht man ihn inmitten seines Teams, junge Männer in feiner Sportkleidung. Auf anderen ist Stuhlmann-Laeisz im Smoking zu sehen. Die Deutschen in den 30er-Jahren in China gehörten zur besseren Gesellschaft. Er hat nur wenige Fotos aus dieser Zeit. "Damals machte man noch keine Schnappschüsse, es gab nur diese Kameras mit den großen Boxen."

Ein halbes Jahr nachdem Stuhlmann-Laeisz China verlassen hatte, kam es vom 13. Dezember 1937 an zum "Massaker von Nanking". Während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges töteten die Besatzer rund 300 000 Menschen in Nanking. Zu der Zeit war Rabe Kopf eines Ausschusses von 15 Ausländern, die vor Ort geblieben waren, um die Bevölkerung vor den Angriffen der Japaner zu schützen. Das Komitee richtete eine vier Quadratkilometer große Sicherheitszone ein, die die Japaner weitgehend verschonten, weil Deutschland als Verbündeter galt. Rabe öffnete sogar sein Haus für die Flüchtenden, 250 000 überlebten. Dankbar nannten die Chinesen ihn später den "lebenden Buddha".

"Dass Rabe das gemacht hat, das habe ich erst 1997 durch das Buch von Erwin Wickert erfahren", sagt Roland Stuhlmann-Laeisz. "Das ist wirklich außerordentlich gewesen. Und es ist schön zu wissen, dass einer von uns so viel Gutes getan hat." Aber auf der anderen Seite hätten ihn Rabes Taten, als er davon 1997 gehört hatte, auch nicht persönlich stolz gemacht. "Inzwischen ist so viel anderes passiert. Auschwitz und der Holocaust."

Zwei Jahre lang von 1937 an hat Stuhlmann-Laeisz noch in Berlin bei Siemens gearbeitet. Anfang 39 ging er dann für AEG nach Oslo. Doch als der Krieg begann, wurde er eingezogen und kehrte erst 1945 nach Hamburg zurück, um in die Firma seines Großvaters einzusteigen.

John Rabe musste 1938 nach Deutschland zurück. Weil er offen über die Gräueltaten der Japaner berichtete, wurde er festgenommen. Siemens konnte ihn rausholen, versetzte ihn aber nach Afghanistan. Nach dem Krieg wurde er von den Engländern nur widerwillig entnazifiziert. Rabe schreibt darüber in seinem Tagebuch: "In Nanking der lebende Buddha ..., hier ein Outcast. Da kann man schon vom Heimweh kuriert werden." Wiedergesehen haben sich Roland Stuhlmann-Laeisz und John Rabe nicht mehr.