Plötzlich ließen Frauen auf dem Bildschirm die Hüllen fallen und diskutierten Schwule öffentlich ihre Homosexualität. Wie die neue TV-Vielfalt nicht nur das Land, sondern auch das Publikum veränderte. Hier geht’s zur Bildergalerie.

Der Kater ist schwarz, rund und gemütlich, wie er sein soll, und Sinn für Timing hat er auch. Am Ende der Moderation springt er wie auf ein geheimes Kommando elegant vom Moderationstisch. Was würde besser passen zum Thema "Katerfrühstück" am Neujahrsmorgen 1985? Diesen Gag hat sich die 24-köpfige Redaktion von "blick", der ersten Nachrichtensendung des Verlegerfernsehens APF, für ihre Premiere auf Sat.1 ausgedacht. Der Kater als Sinnbild für eine neue, muntere Newsshow: Nicht nur Parteienstreit oder Wirtschaftsgipfel sind Nachrichtenthemen, sondern auch der Frühjahrsputz, menschliche Schicksale oder aktuelle Pop-Hits.

"Aber am nächsten Tag wurde uns der Kater prompt vorgeworfen: ,Die holen lebende Tiere ins Studio!'", sagt Armin Halle, damals APF-Chefredakteur und "blick"-Anchorman. "Als kurze Zeit später ,Tagesthemen'-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs mit einem Ferkel unterm Arm für eine Spendenaktion warb, hat sich keiner aufgeregt." Die Episode ist typisch: Alles, was die Privaten sich einfallen ließen, galt höchstens als Versuchsfernsehen.

Teilweise stimmte das sogar. "Wir kamen fast alle aus dem Printbereich", sagt Halle, "den Blick für bewegte Bilder mussten wir erst bekommen. Wir hatten unglaublichen Enthusiasmus, aber oft mussten wir uns noch mit Bordmitteln behelfen." Überraschungen sind in jener Zeit an der Tagesordnung. Mal trifft Filmmaterial via Bahn mit Verspätung ein, weil sich die Redaktion die Nutzung einer Richtfunkstrecke (2000 Mark pro Minute) nicht leisten kann. Mal räkelt sich Blues-Sängerin Eartha Kitt als Studiogast auf dem Moderationstisch. Und auch nach 100 Tagen senden die Privaten im "Kabelpilotprojekt Ludwigshafen", gestartet vor 25 Jahren, noch sehr privat: Im April 1985 erreichen sie gerade 250 000 Haushalte.

Aber Versprecher sind nicht schlimm, lockere Pullis erlaubt. Hauptsache, alles ist anders als bei ARD oder ZDF: mehr Unterhaltung statt ernstem Weltgeschehen, mehr Human Touch statt Bildungsfernsehen.

Und gern auch mehr Lärm. Als 1989 "Der heiße Stuhl" auf RTL startet, hat Deutschland seine erste Krawall-Show: Über Streitthemen wie "Männer sind hirnlos, unförmig und primitiv" oder "Politiker lügen mit Absicht" brüllen bis zu fünf Menschen aufeinander ein. Uta Ranke-Heinemann verteidigt die Ansicht, der Zölibat sei eine "vorverlegte Abtreibung", Rosa von Praunheim verlangt, alle homosexuellen Prominenten sollten sich outen, und outet mal eben Hape Kerkeling und Alfred Biolek. Die Zuschauer sitzen mit offenem Mündern vor dem Schirm. Darf man so was?

Dürfen oder Nichtdürfen, das war nicht (mehr) die Frage. Anfang der 80er-Jahre waren neue Kabel- und Satelliten-Übertragungswege entwickelt worden. Und nachdem sich vor allem die Kirchen und die SPD lange dagegen gewehrt hatten, das öffentlich-rechtliche Monopol aufzugeben, stellte die schwarz-gelbe Koalition unter Helmut Kohl ab 1982 die Weichen anders. Die Rundfunkgesetze in den Bundesländern wurden so geändert, dass fortan auch kommerzielle Anbieter senden durften.

Ältere werden sich noch an Warnungen erinnern, das Privatfernsehen sei "gefährlicher als Kernenergie" (Helmut Schmidt). Es erzeuge "bei den Menschen ein falsches Bewusstsein, das gegen seine eigene Falschheit immun ist" (Herbert Marcuse). Es überfremde und verflache die Kultur. Worauf der damalige RTL-Programmdirektor Helmut Thoma erwiderte: "Im Seichten kann man nicht ertrinken." Heute kann man feststellen: Mit den Privaten wurde in Deutschland ein neues Medien-Zeitalter eröffnet. Sie haben nicht nur das Programmangebot erweitert und verändert, sondern sie haben uns verändert - die Zuschauer.

Wenn man Kindern heute aus der Vor-Privaten-Ära erzählt - also quasi von der Kreidezeit des Fernsehens -, starren einen 20 Jahre Free-TV- und MTV-Kultur fassungslos an. Was, nur drei Sender? Ja. Und jede Sendung wurde von einem Ansager oder einer Ansagerin angesagt. Tagesschausprecher waren seit 1952 nationale Institutionen. Als Karl-Heinz Köpcke1974 mit einem Bart aus dem Urlaub zurückkehrte, erregte das die Republik; 1976 war sie wieder gespalten, als Dagmar Berghoff bewies, dass auch Frauen die Nachrichten sprechen können. Für Kinder gab's nur nachmittags und nur pädagogisch vertretbare Sendungen, nach dem "Sandmännchen" war Schluss. Für Erwachsene wurde bis spätestens halb eins gesendet - danach Nationalhymne und Testbild. Ein ausgewogenes Programm mit gesetzlichem Bildungsauftrag; verpflichtet zu Staatsferne; geleitet von Rundfunkdirektoren (mit Parteibuch nach Proporz); abgenickt von Aufsichtsräten aus gesellschaftlich relevanten Gruppen (Parteien, Gewerkschaften, Sozialverbänden, Kirchen). Alles war gutbürgerlich und geordnet.

Und dann kam 1985 das Kontrastprogramm, Schlag auf Schlag. Vor dem Lästermaul der rosa Moderationspuppe Karlchen war nichts sicher. "Dall-As" war immer gut für einen Eklat - Karl Dall zu Schlagersänger Roland Kaiser: "Na sing schon mal, damit wir es hinter uns haben." Erika Berger schien nichts Menschliches fremd zu sein in der ersten deutschen Erotik-Ratgebersendung "Eine Chance für die Liebe", bis Lilo Wanders sie später dann doch toppte mit "Wa(h)re Liebe". Ganz zu schweigen von "Tutti Frutti" ab 1990: Angeblich schlichen 75-Jährige nachts heimlich zum Fernseher, um Hugo Egon Balder und sein barbusiges Girls-Ballett zu sehen. Wieder rümpfte das gutbürgerlich geprägte Publikum die Nase - bei gleichzeitigem genauen Hinschauen.

Auf der anderen Seite punktete das Privatfernsehen mit neuen Sportsendungen. Ulli Potofski zeigte in "Anpfiff" schon am frühen Sonnabendnachmittag Bilder von Bundesligaspielen. Später erfüllte auch "ran" mit Reinhold Beckmann den Anspruch, nah an die Sportler ranzukommen. Was wären die Tennis-Wunderkinder Becker und Graf ab Ende der 80er-Jahre ohne die Privaten gewesen? Diese erkannten das Promi- und Entertainment-Potenzial im Sport und brachten mehr Sportsparten auf den Bildschirm als je zuvor: die Boxkämpfe von Henry Maske und Axel Schulz, die Formel 1 mit den Schumachers, Dart, Poker und Billard, sogar Wrestling.

Die Musiksender MTV und VIVA haben eine ganze Generation in die Globalisierung der Popkultur geführt. In den 80ern wurden Videoclips zum wichtigsten Kommunikationsmittel der Musikindustrie. Die jungen, ziemlich dilettantischen Moderatoren waren mehr Fans als Professionals. Sie präsentierten Rock, Pop, Heavy Metal und Rap mit dem Charme spielender Kinder. Und erstaunlicherweise ergaben sich daraus etliche Medien-Karrieren. Die steilste gelang Ex-VIVA-Moderator Stefan Raab. Er hat einen siebten Sinn fürs Populäre, und diesen Spielraum hätte er bei den Öffentlich-Rechtlichen nie gehabt. Hans Meiser wurde zum Geburtshelfer der täglichen Talkshow, Erich Böhme etablierte mit "Talk im Turm" 1991 eine ernst zu nehmende Polit-Runde im Kommerzfernsehen. Und Harald Schmidt bekam nach vielen Jahren im WDR und im "Düsseldorfer Kom(m)ödchen" bei Sat.1 die Bühne, auf der er zu Deutschlands erstem Late-Night-Star aufstieg.

Auch andere hätten ohne die gewagten neuen Formate der Privaten keine Chance im Fernsehen gehabt. Das gilt ganz sicher für Margarethe Schreinemakers, die mit "Schreinemakers live" bei Sat.1 das Genre "Heulsusenshow" begründete. Verona Feldbusch wäre allein mit der Lifestyle-Show "Peep" kein Star geworden, aber durch geschickte Kombination ihrer Kurzzeit-Ehe mit Dieter Bohlen und Werbeauftritten für Spinat und Telefonauskunft wurde sie geholfen.

Überhaupt bewirkten erst die Privaten, dass die B- und C-Prominenz erfolgreiches Medienhopping betreibt: Wer eine eigene Sendung bestreitet, besetzt viel leichter einen Platz in der Boulevard-Presse und in den Promisparten des Internets - und kann sogar noch Auszubildende mitziehen! Ohne Heidi Klum hätten es Mädchen wie Gina-Lisa oder Denise ("Keine Competition ohne Tasche") aus "Germanys Next Top-Model" wohl kaum in die Klatsch-Spalten und in YouTube geschafft. Was im braven Öffentlich-Rechtlichen ausgeschlossen werden sollte, feiert im Privatfernsehen immer wieder fröhlich Premiere: die Häme. Symbol dafür ist "Big Brother", der "Menschenzoo" im Container. Der Zwang, bedürfnisnah und bodenständig zu senden, treibt die Zulieferer der Privaten ständig in die Niederungen von "Miss Sachsen-Anhalt"-Wettbewerben, Modeschauen, Typ-Beratungen und in die Praxen von Schönheitschirurgen.

Aber zu den Elementen des Privatfernsehens gehört nun einmal, dass das Publikum mitwirkt - in diversen Betroffenheits- oder Castingshows, Hochzeits- oder Doku-Soaps. In "Deutschland sucht den Superstar", "Frauentausch" oder "Bauer sucht Frau" wird mit den Wünschen und Träumen minderbemittelter Menschen gespielt. Und das Publikum wird immer unbarmherziger mit den Freiwilligen und deren oft naiver Selbstüberschätzung. Rundfunk-Gesetze für die Öffentlich-Rechtlichen verlangen, "die Würde des Menschen zu achten und zu schützen". Schön wär's, wenn das auch bei Müttern und Töchtern gälte, die sich in Mittags-Shows um denselben Liebhaber fetzen. Das Wort des Historikers Paul Nolte vom "Unterschichtenfernsehen" trifft zu, aber es wirkt nur noch wie ein Zwischenruf aus dem Bildungsbürgertum - dagegen ist das Publikum längst resistent.

Die Privaten haben die Deutschen zum ersten Mal mit der Tatsache konfrontiert, dass es im Fernsehen Märkte gibt, also eine Konkurrenz um Formate, Ideen, Quoten und Marktanteile. Bei den Öffentlich-Rechtlichen hatte man immer das Gefühl: Die haben sich jetzt in der NDR-Hauptabteilung "Programmentwicklung" in Niendorf Gedanken über eine neue, familientaugliche Unterhaltungssendung gemacht. Bei den Privaten werden erfolgreiche, also für Werbekunden interessante Formate weltweit eingekauft und für den deutschen Markt variiert. Bei neuen Formaten, sagte Helmut Thoma, sei man dem Bauchgefühl gefolgt und einem Blick in die USA: "Die schönste Gunst des Fernsehens ist die Nachahmung." Oft wissen die Zuschauer gar nicht, wie viele "Neuheiten" der Privaten anderswo längst den Quotentest bestanden haben. "Deutschland sucht den Superstar" etwa folgt dem bewährten Konzept von "American Idol", und sogar "Stromberg" hat sein Vorbild in der US-Serie "The Office".

Wir, die Zuschauer, ahnen auch nicht, wie die Privaten uns selbst verändert haben - die Art, wie wir fernsehen. Vor dem privaten "Urknall" 1985 machte es keinen Sinn zu zappen, wohin denn auch? Da bildeten die Fernsehzuschauer noch eine Art nationaler kollektiver Einheit, die sich Straßenfeger wie Durbridge-Mehrteiler oder "Der Kommissar" reinzog. Am nächsten Tag wusste jeder, worüber man sprach. Mit den Privaten sind auch wir Zuschauer in Sparten zerfallen. Die einen gucken bevorzugt "Dr. House", "CSI Miami", "Desperate Housewives" oder "Gute Zeiten, schlechte Zeiten", die Mutter aller Soaps. Die anderen bevorzugen Doku-Kanäle wie Phoenix oder Arte. Die Dritten können keinen Tag ohne Kochshows oder Ratgebersendungen von "Die Supernanny" bis "Einsatz in vier Wänden" auskommen. Es gibt Zielgruppenshows für Jugendliche, Literaturfreunde, Sportliebhaber, Senioren, Frauen und Männer. Die Zuschauer in den Haushalten sind genauso atomisiert wie das TV-Programm und das Internet.

Die jüngeren Deutschen finden das ganz in Ordnung. In einer aktuellen Forsa-Umfrage glauben 90 Prozent der befragten 14- bis 49-Jährigen, das Privatfernsehen habe ein viel breiteres Angebot und insgesamt frischen Wind in die TV-Landschaft gebracht. Jeder Zweite hält die Nachrichten von Privatsendern für genauso seriös wie die der Öffentlich-Rechtlichen. Von 178 Minuten TV-Konsum täglich pro Kopf entfallen bei den Jüngeren nur noch 26 Minuten auf öffentlich-rechtliche Programme.

Der schwarze Kater hat den Privaten also doch Glück gebracht. Und das noch ohne Tier-Nanny.


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