Bei “Gandhi“ war es einfacher. Ein malerisches Indien mit Hindutempeln, heiligen Kühen und einem Volk, das sich aus der Kolonialzeit befreit - darauf kann das Land stolz sein. “Slumdog Millionär“ dagegen ist ein Bastard in den Augen vieler Inder: Gezeigt wird nicht das moderne, coole Indien, sondern die atypische Geschichte vom Waisenjungen Jamal, der in einem TV-Quiz zum Rupien-Milliardär wird.

Bei "Gandhi" war es einfacher. Ein malerisches Indien mit Hindutempeln, heiligen Kühen und einem Volk, das sich aus der Kolonialzeit befreit - darauf kann das Land stolz sein. "Slumdog Millionär" dagegen ist ein Bastard in den Augen vieler Inder: Gezeigt wird nicht das moderne, coole Indien, sondern die atypische Geschichte vom Waisenjungen Jamal, der in einem TV-Quiz zum Rupien-Milliardär wird. "Ein extremes Mumbai, mal ohne Bollywoods Kamerafilter", schreibt eine indische Kritikerin.

Das Filmthema polarisiert. Indiens aufstrebende Mittelschicht glaubt nicht an den Mythos "Tellerwäscher wird zum Millionär", sondern an Aufstieg durch Bildung, Bildung, Bildung. Eltern geben 80 bis 90 Prozent ihres Einkommens für die Ausbildung ihrer Kinder aus. 6000 Rupien (etwa 90 Euro), etwa zwei Monatslöhne eines Lehrers, zahlen sie allein für den Vorbereitungskurs, mit dem der Sohn hoffentlich die Aufnahmeprüfung für eine der Elite-Unis schafft.

Und jetzt erzählt dieser Film das Gegenteil: Du kannst reich werden auch ohne Schulbildung, ohne Eltern, ohne Geld - aber mit der Überlebensweisheit eines Slumbewohners. "Wenn die Armen ein Quiz ausdenken würden, könnten die Reichen nicht eine einzige Frage richtig beantworten", sagt Protagonist Jamal selbstbewusst in Vikas Swarups Roman "Rupien! Rupien!", der dem Film zugrunde liegt.

"Der Film zeigt Indien, wie es sich verändert, wie es lange nicht sein wollte: als Land der Selbsthilfe", so Anand Giridharadas in der "Hindustan Times". In Indien regieren immer noch strenge soziale Hierarchie, Bürokratie, Religion und Familie. Jamal dagegen ist ein Pionier, "ein Mann aus eigener Kraft". Diese Aussicht begeistert all jene Unterprivilegierten, bei denen Indiens "Wirtschaftswunder" im internationalen IT- und Pharma-Business noch nicht angekommen ist. Warum lieben sie TV-Sendungen wie "Indian Idol" (Indien sucht den Superstar) oder "Wer wird Millionär"? "Weil es eine Chance ist, auszubrechen", sagt Slum-Kind Latikah im Film.

Wer Danny Boyles "Trainspotting" gesehen hat, weiß, dass der britische Filmemacher keinem drastischen Bild widerstehen kann, es aber in ungebrochene Lebenslust auflöst. Und aufregender als in "Slumdog Millionär" sind die wild wuchernden indischen Wellblechhütten-Siedlungen noch nie gefilmt worden. Der Film beginnt mit einer Folterszene, zeigt die ungeschützte und strapaziöse Existenz indischer Straßenkinder, aber auch ihre kleinen Siege. Er zoomt so dicht auf das Leben in Mumbais größtem Slum Dharavi, dass man glaubt, den Müll riechen zu können. Schon die Dreharbeiten in Dharavi waren laut Boyle eine Herausforderung: mit Hunderten Laiendarstellern, ständigem Genehmigungskrieg und einer geradezu byzantinisch verästelten Bürokratie.

Im Kontrast zu den lebenssprühenden Straßenszenen steht das kalte Licht des TV-Quiz-Duells, das die Rahmenhandlung gibt: Jede Quizfrage, die Jamal beantwortet, wird mit einer Flashback-Episode aus seiner wilden Kindheit illustriert. Boyle und sein bewährter Kameramann Anthony Dod Mantel jagen mit solchem Tempo, grandiosen Perspektiven und Farben durch diese Lebens- und Liebesgeschichte, dass für Rührseligkeit keine Zeit bleibt.

"Slumdog Millionär" hat großartige Darsteller (Dev Pratel als Jamal, Bollywood-Star Anil Kapoor als Quizmaster, Freida Pinto als Latikah), einen wunderbaren Soundtrack und "alles, was auch ein Bollywood-Film hat", sagt Loveleen Tandan, Danny Boyles indische Koregisseurin: "Einen Underdog, der einen missratenen Bruder und Gangsterbosse überwindet und am Ende das Mädchen kriegt." Dazu noch das Tadsch Mahal. Mehr Indien geht eigentlich nicht.