Ihre Beine sind für Millionen Euro versichert, und ihre Stimme elektrisiert schon die dritte Generation. Woher nimmt eine Frau im Rentenalter diese Energie? Es muss mehr sein als ein Triumph der Disziplin.

"Mensch, wenn ich bloß solche Beine hätte ...", seufzte eine Journalistenkollegin neulich in der Kölnarena. Seit 40 Jahren geht weiblichen Turner-Fans der Gedanke durch den Kopf. Haare, Zähne, Brust und Nase lassen sich beim Älterwerden notfalls nachrüsten, Beine nicht. Solche Beine sind ein genetischer Lottogewinn. Und Tina Turner (69) hat ihr Kapital bemerkenswert gut zusammengehalten.

Das Wahlkampfjahr, das der 72-jährige John McCain in den USA absolvierte, ist ein Spaziergang im Vergleich zu ihrer neuen Welttournee. Wegen der großen Nachfrage wurden die sechs geplanten Deutschland-Konzerte auf 16 aufgestockt, auch in Hamburg kam ein drittes hinzu (30. und 31.1., 3.2.). Weltweit fragen sich die Fans: Wie schafft eine fast 70-Jährige das körperlich?

Wenn es nach Dr. Rajendra Sharma geht, könnte Tina Turner 120 werden (siehe Text unten auf dieser Seite). Der Londoner Arzt und Naturheilkundler ist einer der Gründe, warum sie die Energie einer 20 Jahre jüngeren Frau hat. Angeblich macht sie vor jeder Konzertreise bei ihm eine Sauerstoffkur. "Ich habe kein Problem damit, 70 zu sein, aber ich möchte nicht zur Karikatur werden, ich möchte nicht die Erinnerung an meine tollen Kostüme, meine Beine kaputtmachen", sagte sie dem britischen "Sunday Mirror". "Dazu bin ich zu stolz." Anders als so viele Rock-Legenden ihres Alters hielt sie sich von Anfang an fern von Alkohol, Zigaretten und anderen Drogen. Die löwenhaarige Tina, die mit ihren Kurven in knallengen Minikleidern zum Sinnbild sexgeladener Rock-Shows wurde, ist nur an einem einzigen Ort exzessiv: auf der Bühne.

Für die jüngere Kollegin Janet Jackson ist sie "ein Symbol von Überlebenskraft und Anmut", ihre Lebensgeschichte "nicht Inbegriff von Opfertum, sondern von Triumph". Tina Turner sieht es in ihrer Erinnerung nüchterner. Das schwarze Mädchen namens Anna Mae Bullock aus Nutbush/Tennessee, das sie einmal war, hat mit der selbstbewussten Frau von heute nicht viel zu tun.

Als sie im Teenageralter mit ihrer älteren Schwester Alline in den Musikklubs von St. Louis herumhing, fand sie sich "dürr, mit langen Beinen, nicht wirklich attraktiv", erzählte Turner. Alle guckten auf Alline. Aber Alline hatte nicht diese Stimme: völlig einzigartig, organisch, unbeschreiblich, "als wäre sie auf der Palette der Elemente übrig geblieben", schrieb ein Rock-Journalist. Irgendwann 1956 entdeckte ein erfolgreicher Bandleader namens Ike Turner diese Stimme durch Zufall. Und damit begann seine Besitzergreifung.

Das Baby, das die 18-jährige Anna Mae 1958 in einem Heim für ledige Mütter zur Welt brachte, war nicht von ihm, sondern vom Saxofonisten der Band. Aber aus ihrem Plan, eine Ausbildung zur Kinderschwester zu machen, wurde nichts. Ike Turner heiratete sie 1960, wurde Vater ihres zweiten Kindes.

Die Geschichte dieser verhängnisvollen, 16 Jahre dauernden Ehe ist oft genug beschrieben worden. Er änderte Anna Maes Namen in Tina, er verwaltete die Einnahmen, er bestimmte, was sie trug, wie sie sang, was sie durfte, immer häufiger mit brutaler Gewalt. Auf der Bühne repräsentierte das Paar eine völlig neue, aufregende Musikshow-Ära. Privat war die Beziehung die Vorhölle.

Was Tina Turner durchhalten ließ, war eine seltene Mischung aus stählerner Belastbarkeit, unglaublicher Naivität und Disziplin. Als sie sich 1976 aufraffte und ihn mitten in einer Tour verließ, hatte sie 36 Cent bei sich. "Ich wusste nicht mal, wie man an Geld kommt", sagte sie später. "Ike glaubte, ich würde es allein nie schaffen. Aber ich fand ein Haus, in der ersten Zeit schliefen wir auf dem Boden." Ihr Mann setzte ihr zu, drohte ihr, schickte dann aber etwas Geld für sie und die Kinder. Und seine zwei Söhne aus seiner ersten Ehe schickte er gleich mit. Sie sah Ike Turner zum letzten Mal 1978 bei der Scheidung (er starb 2007).

Wenn es heute heißt, Tina Turner sei die "wildeste Mutter und Großmutter des Showbiz", ist das irreführend. Eine sehr mütterliche Frau war sie nach eigenem Bekunden nie. "Meine Kinder und ich waren eher wie Brüder und Schwester", sagte sie. "Ich liebe sie, aber ich bin nicht kuschelig, keine Glucke. Sie konnten immer zu mir kommen, aber ich musste sie nicht dauernd um mich haben." Das war auch schwer möglich. Ihr eigenes Leben begann mit einem Schuldenberg. Um die Scheidung abzukürzen, hatte sie auf Unterhalt für sich und auf die Rechte an gemeinsamen Songs verzichtet und die Kosten für ausgefallene Konzerte übernommen.

Nur: Sie war 38 und nicht als Solokünstlerin bekannt. Um vier Kinder zu ernähren, trat sie in kleinen Klubs und Hotels auf. Die Plattenfirmen hatten den "Altstar" schon abgeschrieben.

Diese Zeit, so schwierig sie war, sei der Wendepunkt gewesen, hat sie später gesagt. "Ich war es gewohnt zu denken, dass ich als verheiratete Frau an die Dinge komme, die ich mir wünsche. Allmählich merkte ich, dass ich mir alles selbst holen wollte. Ich wollte nicht mehr von einem Mann abhängig sein, der mir Geld gibt." Das Thema Beziehung hat sie in unzähligen Songs explizit bearbeitet. Schon die Titel sprechen für sich: "Better Be Good To Me", "Typical Male", "I Don't Wanna Fight" oder natürlich "What's Love Got To Do With It".

Das Publikum nahm ihr ab, dass sie wusste, wovon sie sang. "Geröhrter Feminismus", schrieb die "FAZ". Das trifft es auch nicht ganz. Denn Tina Turner hielt ihr privates Frauen-Netzwerk - ihre Mutter und ihre Schwester vor allem - und ihre völlig gegensätzliche Bühnenexistenz als "Sex Machine" immer fein säuberlich auseinander. Auch musikalisch orientierte sie sich nicht an Frauen. "Ich habe nicht besonders verfolgt, was andere Musikerinnen machen", sagte sie. "Ich gebe zu, dass ich immer die Songs von Männern gecovert habe."

Ein Grund ist, dass es immer Männer waren, die sie förderten. Und Männer halfen ihr auch aus dem Karrieretief - nicht ganz uneigennützig. Von den Gastauftritten des Sexsymbols Turner profitierten Tom Jones, Rod Stewart, David Bowie und auch wieder die Rolling Stones, die schon 20 Jahre zuvor "Ike & Tina Turner" ins Vorprogramm genommen hatten. 1984 mit "Private Dancer" gelang ihr das, was bisher einzigartig ist: Eine 45-Jährige aus dem "Randbereich" Soulrock schafft es, sich in die Erste Liga der großen Stars zu schieben, sich dort mehr als 20 Jahre lang zu behaupten und 170 Millionen Alben zu verkaufen.

Gleichzeitig hat sich ihr privates Leben beruhigt. 1986 begegnete ihr in dem 16 Jahre jüngeren deutschen Musikproduzenten Erwin Bach der Mann, mit dem sie seither zusammenlebt - in Zürich und Südfrankreich - und mit dem sie noch viel älter werden will. Ihre leiblichen Söhne Raymond Craig und Ronnie sind heute 50 bzw. 48 Jahre alt und haben selbst Kinder.

Die können sich die Auftritte ihrer Oma heute auf YouTube anschauen. "Shame Shame Shame" (von Shirley & Company) ist an sich schon ein Knaller, aber die Stimmen- und Tanzschlacht, die sich Tina Turner und Cher 1974 dabei lieferten, muss man gesehen haben. Oder "It's Only Rock'n'Roll But I Like it" im Duett mit Mick Jagger 1988, ein Fünf-Minuten-Dauerfeuerwerk. Egal wo und mit wem: Tina Turner ist ein Kraftwerk, das nun schon die dritte Generation elektrisiert.

"Es war eine Männerwelt, die sie betrat", schreibt die "FAZ". Wieso war? Mittlerweile überschwemmen 70er-Jahre-Bands als Altherrencombos die Bühnen - The Eagles, Ozzy Osbourne, AC/DC, Kiss. Die meisten recyceln ihr musikalisches Oeuvre eher ernsthaft gesetzt, mit Gesichtsfalten tief wie der Marianengraben. Schon im Herbst 2008 stand Tina Turners neue Welttournee fest - seither brachte die deutsche Ausgabe des Magazins "Rolling Stone" mehrfach große Berichte über die Beatles, die Rolling Stones, Leonard Cohen, Deep Purple - aber nicht über Tina Turner.

Der Einzige, der wie sie auf der Bühne solide Beinarbeit zeigt, ist Mick Jagger. Womit wir wieder bei Tina Turners Markenzeichen wären. Für 2,35 Millionen Euro sollen ihre Beine bei Lloyds versichert sein. Und sie setzt sie in ihrer neuen Show energisch ein, so gelenkig wie ihre fünf jungen Tänzerinnen. Immer auf High Heels, zum Teil balanciert sie auf einem Steg meterhoch über den Zuschauern. Ohne Netz.

Cellulite? Krampfadern? Nicht bei Tina Turner. Sie steht auf den Säulen eines elastischen Lebens.


Am 30. und 31.1. sowie am 3.2. tritt Tina Turner in der Hamburger Color-Line-Arena auf. Es gibt für alle drei Konzerte Restkarten zu je 226 Euro.

Ein Video von Tina Turners derzeit laufender Deutschland-Tour sehen Sie unter www.abendblatt.de/turner